Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
das das Erziehungsministerium und der Afghanische Frauenverein zusammenlegten. Sie war eine gute Pädagogin, alle Kinder in ihrer Klasse konnten lesen. Manchmal wurden die Kleinen von den älteren Geschwistern zur Schule begleitet, und sie lernten gleich mit. In der Lehrerin und ihren Schülerinnen hatten sich Gleiche gefunden: Fast alle Kinder in diesem Raum waren Waisen oder Halbwaisen, hatten Verletzte und Tote gesehen. Die Hälfte der Klasse war schon einmal an Malaria erkrankt gewesen. Sie selbst aber, räumte die Lehrerin damals ein, hatte vor allem psychische Probleme. Doch selbst diese hätten ihr Gutes: Ihre Traumata hülfen ihr im Umgang mit denen der Kinder. Diese seien leider allgegenwärtig und brächen sich im Alltag dauernd Bahn: Schiedsrichter würden verprügelt, die Möbel in der Schule zerstört. Von scheinbar unmotivierten Gewaltausbrüchen erzählen alle, die Kontakt mit Jugendlichen haben. Vielleicht, so der Eindruck, setze das Kriegsende eine große Blase der Gewalt frei, die nun platze – eine lange angestaute afghanische Katharsis.
Die Mädchen, sagte die Lehrerin auch, seien ruhiger, gefasster, die Jungen zerstörerischer, unbändiger. Kaum kämen sie in die Pubertät, müssten Jungen und Mädchen versetzt unterrichtet werden, die einen vormittags, die anderen nachmittags, und dann sei da noch das ethnische Problem zwischen den Persisch- und den Paschtu-Sprachigen, den Turkmenen und den Usbeken mit all dem, was ohnehin die Stämme trenne und die Schichten. Zum Glück sei nun wenigstens eine Schuluniform eingeführt worden, die den Schmutz nicht annehme. Auch das sei wichtig, denn viele Kinder in ihren Klassen besäßen keine Seife und trügen ihre schwarzbunte Kleidung auch, da man die Flecken auf ihr nicht sehe. Nun könne wenigstens kein Unterschied mehr zwischen den Armen und den Bessergestellten ausgemacht werden.
In den Monaten nach dieser Begegnung habe ich versucht, andere Lebensgeschichten afghanischer Frauen in ihren eigenen Worten zu sammeln. Hier sind einige der Stimmen, die mich aus der Schneiderei einer Kleinstadt erreichten:
»Ich heiße Mary Abdulhaq und bin seit zwei Jahren Schülerin einer Schneiderei und Stickerei. Meine Lebensgeschichte möchte ich sagen. Ich habe ein schweres Leben hinter mir, und oft konnte ich nicht schlafen. Früher lebten wir in einer Hütte, sie war schlecht gebaut, und oft hatten wir Angst, die Hütte stürzt ein, weil aber wir kein Geld besaßen, konnten wir sie nicht befestigen. Mein Vater arbeitete als Wächter. Doch leider brach in das Haus, das er bewachte, ein Dieb ein, und so verlor er seine Anstellung. Mit dem Geld, das ich durch die Schneiderei und Stickerei verdiene, kaufe ich für meine Mutter Medikamente, weil sie gelähmt ist, und bezahle das Schulgeld für meinen Bruder. Einen Teil meiner Einkünfte aber habe ich auch gespart.
Als mein Vater seinen Job verlor, habe ich von meinem ganzen gesparten Geld für meinen Bruder einen kleinen Handelsbetrieb gekauft, und jetzt führe ich mit meiner Familie ein gutes Leben. Nächte, die wir mit Angst verbrachten, und Tage, die wir hungerten, sind vorbei, jetzt geht es uns gut. Dies alles, die Freude und großes Glück, verdanken wir unserer Lehrerin und ihrem Einsatz.«
»Ich bin in einer sehr armen Familie geboren. Mein Vater ist Invalide, er hinkt. Er hat einen Laster, von wo er Kartoffeln und Zwiebeln verkauft. Wir sind vier Schwestern und drei Brüder. Meine Eltern und Großeltern leben mit uns. Meine Mutter sammelt Obst in den Gärten und Kartoffeln und Zwiebeln vom Boden, wo es geerntet wird. Wir haben zu wenig zum Essen und Anziehen. Meine Brüder und Schwestern sammeln Brennmaterial. Aber nachdem ich meinen Abschluss bei der Schneiderei gemacht hatte, konnte ich meinen Eltern sehr viel helfen. Jetzt schneidere ich von zu Hause aus, und meine Mutter unterstützt mich beim Bügeln. Zwei meiner Schwestern sind inzwischen verheiratet, und eine Schwester ist nun auch Schneiderin. Wenn ich ihr den Entwurf vorzeichne, kann sie ihn nähen. Gott sei Dank ist unser Leben so gut. Ich bin sehr zufrieden und dankbar.«
»Ich bin Mahbooba Aligul. Meine Mutter, zwei Brüder, eine Schwester und ich senden Grüße. Ich bin eines von vielen sehr unglücklichen Mädchen, da ich meinen Vater verlor, bevor meine kleine Schwester zur Welt kam. Da wir sehr schlechte Lebensumstände hatten, ging mein Vater zu ›Escort‹ als Fahrer. Er verunglückte auf dem Weg nach Kandahar. Als mein Vater starb,
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