Es wird Dich rufen (German Edition)

nackte Fels kalt und unangenehm anfühlte.
    »Dieser Ort ist ein besonderer Platz der Initiation. Vielleicht erinnerst du dich an die ungewöhnliche Haltung des Asmodeus in der Kirche«, begann der Großmeister, Mike zu erklären, weshalb er ihn hierher gebracht hatte. »Er nimmt eine sitzende Haltung ein.«
    »Dann ist das hier sozusagen als sein Stuhl anzusehen?«, erkundigte sich Mike.
    »Es ist der Ort, von dem aus der Siegeszug beginnen kann«, erläuterte der Großmeister im Hinblick auf das Zitat, das den Asmodeus seit Jahrzehnten fest begleitete: ›Par ce signe tu le vaincras‹ – durch dieses Zeichen wirst du ihn besiegen. »Sowohl Saunière als auch Boudet waren sehr oft hier oben und haben den Ausblick genossen. Für sie war es ein essenzieller Augenblick der Stille und des allumfassenden Ganzen. Es ist ein magischer Ort und ein magischer Moment. Versuche, den Zauber der Natur in dir aufzunehmen.«
    Am Horizont zeichneten sich die ersten Strahlen der Sonne ab, die vorsichtig versuchten, über den gegenüberliegenden Berg Serbairou zu klettern. Seine zunächst nur schwer erkennbaren Umrisse wurden nun in einen strahlend hellen Farbton getaucht, der sich mit zunehmender Höhe der Sonne in ein mattes Hellblau verwandelte.
    Unterdessen hatte der Großmeister das Kuvert, das er bei sich trug, geöffnet und ein Dokument herausgezogen, das Mike kannte. Der Großmeister reichte es ihm.
    »Jean sagte mir damals, dass es den Weg zur Gralshöhle zeigt.« »Deshalb habe ich es dir gegeben«, sagte der Großmeister und zog sich hinter den Teufelsstuhl zurück, während Mike, das Dokument mit beiden Händen festhaltend, wieder zum Serbairou schaute. Dort blinzelte inzwischen die Sonne hervor, um sich langsam zu erheben und die ihr zugedachte Wanderung am Firmament zu vollziehen, die sie am Ende des Tages im Westen wieder verschwinden ließ.
    Schon oft hatte Mike einen Sonnenaufgang gesehen, wenn er morgens ins Büro gefahren war. Allerdings hatte er ihn selten so intensiv auf sich wirken lassen wie jetzt, als er leicht fröstelnd auf dem Teufelsstuhl saß.
    Es war ein sonderbares, kaum greifbares Gefühl, das ihn übermannte. Dieser Moment entwickelte sich zu einem kraftvoll-schöpferischen Augenblick, in dem das Leben aus dem süßen Schlummer des tiefen Schlafs erwachte. Ein neuer Tag begann.
    »Weißt du, was man über den Osten sagt?«, fragte der Großmeister. Mike verzichtete darauf, sich zu ihm umzudrehen. Er wollte die morgendliche Atmosphäre in vollen Zügen genießen.
    »Dass er die Wohnung des irdischen Lichts ist«, fuhr der Großmeister fort. »Wer das Licht sucht, muss sich gen Osten wenden.«
    War es Zufall, dass sich im Osten des Teufelsstuhls ausgerechnet der Berg Serbairou befand?
    »Jean sagte, Boudet habe diesen Ort beschrieben – im Buch und auf seiner Karte.«
    Mike hatte eine Vermutung.
    »Weil sich dort die Gralshöhle befindet? Sehe ich gerade darauf? Zeigt die Karte das Versteck?«
    »Nein«, widersprach der Großmeister. »Weder Boudet noch Saunière haben den eigentlichen Ort des Geheimnisses beschrieben, sondern nur die Quelle der Initiation. Ihre Botschaften richteten sich nur an die Auserwählten, die sie zu verstehen wissen, wenn sie diesen Ort gefunden haben und ihn auf sich wirken lassen.«
    »Verstehe ich nicht.«
    »Hab Geduld, Mike. Es ergibt sich von selbst.«
    Mike betrachtete die auf Höhe der steinernen Armlehnen in den Fels geritzten Symbole näher.
    »Was haben diese Zeichen zu bedeuten?«
    »Es sind alte Runen. Zeichen aus längst vergessenen Zeiten.« »Verstehe.«
    Das fesselnde Schauspiel der Natur näherte sich einem ersten Höhepunkt. Der Himmel berührte die Erde und erweckte sie zu neuem Leben. Die Grenzen flossen ineinander. Die Gegensätze vereinten sich am Horizont. Bestimmt hatte Jean das gemeint, als er über Johannes von Jerusalem sprach – und von dem Moment, in dem sich All und Erde berühren.
    Ein herzhaftes Gähnen entfuhr dem Journalisten. Er musste darum kämpfen, dass ihm seine Augen nicht zufielen. Als er sich aus Höflichkeit die Hand vor den Mund halten wollte, fiel das Pergament beinahe von seinem Schoß auf den kühlen Erdboden. Gerade noch rechtzeitig hielt er es zurück.
    »Nichts passiert!«, rief er dem Großmeister zu, doch der reagierte eigenartigerweise nicht.
    Mike drehte sich um. Sein alter Freund war nicht mehr da. »Walter?«, rief Mike. »Wo bist du?«
    Abgesehen vom munteren Zwitschern der Vögel erhielt er aber keine Antwort. Er