Es wird Dich rufen (German Edition)
der Ort überhaupt so viele Einwohner hatte.
Vom Parkplatz aus bot sich ihm ein einmaliger Blick auf die Ost-Flanke der Pyrenäen. Wie von einem Künstler mit Öl auf Leinwand gebannt, erhoben sich vor ihm kleinere Hügel, hinter denen sich dann eine ganze Kette aus gewaltigen Steinmassiven aufbaute, die sich wiederum dem azurblauen Himmel entgegenstreckten.
In seiner Nähe entdeckte Mike eine gemütliche Parkbank, auf der er es sich einen Moment bequem machen wollte. Sie befand sich nur wenige Meter von einer Art Turm entfernt, der an den Ausläufer einer kleinen Festung erinnerte und dessen Bauart ihm sofort imponierte. Völlig frei, am Rand eines steilen, mit Büschen bewachsenen Abhangs, stand das Gebäude in der Landschaft. Direkt daneben schloss sich ein mit Gitterstäben umzäunter Garten an, der den direkten Blick auf eine großzügige Villa freigab. Beides schien zusammenzugehören.
Die beschauliche Ruhe des Ortes tat Mike nach der anstrengenden Fahrt gut. Er genoss den kühlenden Wind, der vom Tal heraufkam, und die herrliche Stille, die ihn umgab. Das Zirpen der Grillen, das Zwitschern der Vögel und ein bellender Hund in der Ferne war alles, was ihm hier oben begegnete. Menschen waren noch immer weit und breit nicht zu sehen.
Mike lehnte sich zurück und genoss die immer noch kraftvollen Strahlen der Abendsonne, die auf seinen Körper fielen.
Eine ganze Weile saß der junge Journalist schon so da, als er plötzlich Schritte auf sich zukommen hörte.
Er drehte seinen Kopf in Richtung des Parkplatzes. Von dort näherte sich ein hagerer Mann mit schütterem weißem Haar, der sicher jenseits der 80 Jahre war und der sich beim Gehen auf einen hölzernen Stock stützte. Er hatte einen kleinen Hund, einen Pinscher, bei sich, mit dem er spazieren ging.
»Bonjour, Monsieur«, grüßte der Mann, als er Mike erreicht hatte. »Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«
»Bitte sehr!«, sagte Mike.
Ihn überraschte nicht nur, dass der ältere Herr die deutsche Sprache beherrschte, was in einem kleinen Dorf fernab von Deutschland nicht gerade selbstverständlich war, sondern auch, dass er ihn sofort auf deutsch angesprochen hatte.
Woher wusste der Fremde, dass Mike kein Franzose war?
»Ich habe nicht erwartet, hier auf einen Menschen zu treffen, der der deutschen Sprache mächtig ist«, bemerkte Mike erstaunt.
»Das kann ich verstehen«, lächelte der alte Mann und fuhr sich durch sein spärliches Haupthaar, dem der Wind den letzten Rest einer Frisur geraubt hatte. »Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen.«
»Und was verschlägt Sie dann an diesen gottverlassenen Ort?« »Berufung«, sagte der Fremde mit einem geheimnisvollen Schmunzeln auf den Lippen. »Wer nach Rennes-le-Château kommen soll, der wird von diesem Ort gerufen.«
Mike wusste mit dieser Antwort nicht viel anzufangen. Aufmerksam musterte er den Fremden.
Trotz seines hohen Alters wirkte er recht fit. Modisch hätte er allerdings dringend einen Berater gebraucht: Er trug über einem farblich unpassenden blauen Rollkragenpullover ein schlichtes, leicht abgenutztes dunkelgrünes Sakko, das im Bereich der Ellenbogen geflickt war. Auch seine Hose hatte sicherlich schon bessere Zeiten gesehen.
Lediglich der Spazierstock, dessen Knauf mit Elfenbein verziert war, ließ darauf schließen, dass der Landsmann wohl nicht zu den Ärmsten im Dorf zählte.
»So, wie Sie mich beobachten, sind Sie entweder Polizist oder Privatdetektiv«, bemerkte der alte Mann nach einer Weile. »Auf jeden Fall aber ein Schnüffler!«
»Weder noch«, sagte Mike. »Ich bin Redakteur!«
»Das ist fast dasselbe«, stellte der Alte fest und ergänzte: »Nehmen Sie es nicht persönlich, junger Freund. Ich habe selbst lange Zeit in diesem Bereich gearbeitet und weiß, was ich sage: Recherche hat viel mit Schnüffeln zu tun.«
»Sie sind auch ein Redakteur?«
»Ich sagte nur, dass ich in diesem Bereich gearbeitet habe. Aber das ist lange her und längst vergessen. Es war nicht unbedingt mein Spezialgebiet.« Er hustete. »Ist aber auch nicht so wichtig.«
»Und wie sind Sie nach Rennes-le-Château gekommen?«, wollte Mike wissen. Er begann, sich für den alten Mann und seine Lebensgeschichte zu interessieren. »Wohnen Sie hier?«
»Nein, ich lebe nicht im Dorf, sondern außerhalb, wo es ruhiger ist.« Mike stutzte. Wo konnte es denn noch ruhiger sein, als hier oben?
Das war kaum mehr möglich!
»Und wie es mich hierher verschlagen hat, das ist eine sehr
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