Es wird Dich rufen (German Edition)
lange Geschichte«, fuhr der Alte fort. »Noch dazu eine, die in vielen Dingen nicht gerade schmeichelhaft für mich ist. Damit möchte ich Sie besser nicht langweilen, junger Freund.«
Irgendwie erinnerte Mike die Art, wie der Fremde zu ihm sprach, an seinen Großvater. Wie er seinen Enkelkindern an langen Winterabenden, auf einem Ohrenbackensessel vor dem Kaminfeuer sitzend, Geschichten aus seiner Vergangenheit erzählt hatte. Das gefiel Mike und löste eine Art Vertrautheit in ihm aus, die er einem Fremden gegenüber sonst kaum so schnell zugelassen hätte.
»Eines würde ich gerne wissen«, sagte Mike. »Woher wussten Sie, dass ich aus Deutschland bin?«
Der Alte lachte amüsiert. »Das war nicht schwer zu erraten. Nur ein Auto steht vorne auf dem Parkplatz und es hat ein deutsches Nummernschild. Und Sie sind weit und breit der Einzige, den ich sehe, der nicht aus Rennes-le-Château stammt.«
»Oh!«, sagte Mike verlegen. »Stimmt. Darauf hätte ich auch selbst kommen können.«
»Darf ich im Gegenzug eine Frage an Sie richten, junger Freund?«, erkundigte sich der Fremde höflich. »Was zieht Sie an diesen abgelegenen Ort? Recherche? Urlaub? Abstand vom stressigen Stadtleben?«
Das Stichwort war gefallen. Es kam Mike natürlich gelegen, dass sich der Fremde nach dem Grund seines Besuchs in Rennes-le-Château erkundigte. Vielleicht kannte der Alte ja diesen Saunière und konnte Mike sagen, wo er zu finden war.
»Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Bérenger Saunière.« »Das habe ich mir fast gedacht«, nickte der Alte wissend, als habe er keine andere Antwort erwartet. »Alle, die hierherkommen, wollen zu Abbé Saunière!«
»Abbé!«, horchte Mike auf. Dann war dieser Saunière also der Dorfpriester. Das ergab Sinn. Schließlich war ihm der Umschlag in Rennes ebenfalls von einem Mann übergeben worden, der, gemessen an seiner Kleidung, vermutlich derselben Berufsgruppe angehörte.
Nun konnte er nur noch hoffen, dass es tatsächlich ein Amtskollege war. Sollte es sich nämlich bei dem Toten um Saunière gehandelt haben, wäre seine Suche hier unweigerlich zu Ende.
»Was meinen Sie damit: Ich bin nicht der Einzige, der ihn sehen will? Ist er so bekannt?«
»Und wie!«
Der Alte sah Mike so intensiv an, als wolle er dessen Gedanken erforschen. Vermutlich war ihm das gelungen, denn er fragte plötzlich: »Sie kennen also Abbé Saunière und seine mysteriöse Geschichte nicht?«
»Nein«, antwortete Mike wahrheitsgemäß. Dachte der Fremde etwa, dass man sich im weit entfernten Deutschland ernsthaft für das Leben eines Priesters in einem abgelegenen südfranzösischen Dorf interessierte? »Ich bin ihm nie zuvor begegnet. Es ist nur so, dass ich einen Umschlag habe, den ich bei ihm abgeben möchte.«
»Bei Saunière?« Der Fremde blickte ihn verdutzt an.
»Ja, bei Monsieur Bérenger Saunière in Rennes-le-Château. Das ist er doch, oder?«
»Ja, das stimmt«, erklärte der Fremde im Tonfall eines Lehrers, der bemüht war, selbst dem dümmsten seiner Schüler das kleine Einmaleins beizubringen. »Das ist er. Wenn Sie ihm allerdings persönlich etwas übergeben wollen, dann kommen Sie ein wenig zu spät. Genauer gesagt: einige Jahrzehnte zu spät, junger Freund!«
»Ich verstehe nicht so ganz. Was wollen dann alle Leute von ihm?« Der Alte drehte sich um und deutete auf den Turm, der sich hinter ihnen gen Himmel streckte.
»Sehen Sie? Das ist der Tour Magdala – oder in ihrer und meiner Sprache: der Magdalenen-Turm. Abbé Saunière hat ihn erbauen lassen, wie so vieles in dieser Gemeinde. Sehen Sie sich die prächtigen Gärten und die Villa gleich daneben an. Die Villa Bethania.«
»Oh, dann ist er wohl ein sehr reicher Mann?«
»Er war ein sehr reicher Mann, das kann man sagen. Ja.«
»Er war?«
»Abbé Saunière ist tot«, erklärte der Fremde. »Und das seit nunmehr über 80 Jahren.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
Nun war Mike vollkommen irritiert. Er hatte in seinem Auto also einen Umschlag von einem Toten, der an einen längst verstorbenen Mann adressiert war. Was wurde hier gespielt?
»Das Geheimnis des Abbés Saunière zieht Jahr um Jahr tausende Schatzsucher und natürlich auch normale Touristen an. Sie fallen hier jeden Morgen wie Heuschrecken ein und ziehen abends wieder ab. Ich kenne keinen im Dorf, der nicht froh darüber ist, wenn die einsetzende Abenddämmerung den Spuk endlich beendet«, berichtete der Fremde. »Sie würden sich wundern, wenn Sie wüssten, was tagsüber
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