Es wird Dich rufen (German Edition)
Oben links befand sich ein kleines Dreieck, das ihn entfernt an ein von Kinderhand gezeichnetes, um 50 Grad geneigtes Indianerzelt erinnerte.
Auch das zweite Manuskript wies merkwürdige Auffälligkeiten auf. Der Text war wesentlich umfangreicher und kompakter angeordnet, wenngleich einige Buchstaben viel zu eng aneinandergereiht waren oder einen Punkt auf der Spitze hatten. Einzelne Worte gingen – ohne die eigentlich erforderliche Silbentrennung – nahtlos von einer Zeile in die nächste über. Mike stieß auch hier auf Buchstaben, die völlig aus dem Rahmen fielen, weil sie nur etwa halb so groß wie die anderen waren, noch dazu an Stellen niedergeschrieben, an denen sie nicht den geringsten Sinn ergaben.
Drei dieser kleinen Buchstaben entdeckte Mike gleich zu Beginn des Textes. Als er sie aneinanderreihte, stellte er fest, dass sich daraus das Wort »REX«, was König bedeutete, bilden ließ.
Interessant, dachte der Journalist und beschloss, auch aus den noch verbliebenen fünf Buchstaben, die aus der Reihe tanzten, ein Wort zu bilden. Wie vermutet, war er auf der richtigen Spur. Er las nun »MUNDI«. Zusammengenommen ergab sich also ein Hinweis auf den »REX MUNDI«.
»König der Welt«, murmelte Mike vor sich hin, um das Gelesene besser verstehen zu können. Wer mochte damit gemeint sein?
Im unteren rechten Bereich machte er eine sehr merkwürdige Zeichnung aus, die einer Windrose glich. In jeder der vier Himmelsrichtungen waren jeweils ein oder zwei Buchstaben vermerkt. Sie standen auf dem Kopf, also drehte Mike das Papier herum.
Oben entzifferte er nun ein »A«, unterhalb davon ein deutliches »N«. Die vier Buchstaben der Horizontalen ergaben das Wort »SION«. Soweit er sich erinnerte, war das der alte lateinische Name für die Stadt Jerusalem, den er heutzutage eigentlich nur noch aus dem Adventslied »Tochter Zion« kannte.
Seine anfängliche Enttäuschung über den Inhalt des Umschlags wich mehr und mehr einer wachsenden Begeisterung.
Ganz offensichtlich hatte er hier eine versteckte Botschaft vor sich, die nur darauf wartete, entschlüsselt zu werden. Allerdings hatte er nicht den geringsten Schimmer, worum es ging. Womöglich um einen verborgenen Schatz?
»Uhh! Ich werde Schatzsucher!«, sagte er laut und mit einem verspielten Grinsen in seinem Gesicht.
Hatte Jean nicht vorhin noch gesagt, dass viele nach Rennes-le-Château kommen, weil sie hier etwas zu finden hofften?
Je länger Mike darüber nachdachte, was das alles mit diesem Abbé Saunière zu tun hatte, umso klarer wurde ihm, dass er in Erfahrung bringen musste, was genau auf den Dokumenten niedergeschrieben war, wollte er in dieser Sache vorankommen.
Er brauchte also dringend eine Übersetzung der lateinischen Texte. Nur, an wen sollte er sich wenden? Ein Mensch war deswegen schon umgekommen. Wem konnte Mike trauen?
Zwar fühlte er sich im Moment alles andere als in Gefahr, dennoch kannte er die Hauptregel, die es bei heiklen Recherchen zu beachten galt: auf Nummer sicher gehen.
Es käme nur jemand infrage, dem er blind vertraute. Spontan fiel Mike da nur eine Person ein: sein alter Freund und Vorgesetzter, Walter Stein. Auch wenn er ihn zuletzt zweifellos furchtbar enttäuscht hatte. Es wäre ohnehin an der Zeit, ihn nach Tagen des Schweigens zu kontaktieren, um zu berichten, wie es ihm bislang in Frankreich ergangen war.
Mit pochendem Herzen griff Mike nach seinem Handy und wählte Steins Nummer. Er spürte dabei eine gewisse Furcht vor dessen Reaktion in sich aufkommen. Ob er ihm den katastrophalen Artikel und dessen Folgen noch nachtrug?
»Mike!«, meldete sich Stein wenig später, hörbar erfreut über den Anruf. Seine gute Laune sorgte auch bei Mike für Erleichterung.
»Gut, dass du was von dir hören lässt! Wo steckst du denn? Ich habe heute Morgen versucht, dich anzurufen, aber in Rennes habe ich dich nicht erreicht und dein Handy war auch aus!«
»Das kann ich dir erklären«, sagte Mike. »Es hat mich in eine ganz andere Ecke, in den Süden von Frankreich, verschlagen.«
»Sag das noch mal. Wo bist du?«, fragte Stein ziemlich verwundert. »Was machst du dort?«
»Das erkläre ich dir in einer ruhigen Minute«, versprach Mike und grinste. »Es ist viel zu viel geschehen.«
Sein Vorgesetzter schien damit einverstanden.
»Erholst du dich wenigstens gut?«
»Ich denke schon, Walter. Und wie ist es zuhause? Gab’s noch Probleme wegen des Artikels?«
»Es ist soweit alles in Ordnung«, beruhigte ihn Stein.
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