Es wird Dich rufen (German Edition)
Lange dazu überreden musste er den General nicht.
Vorsichtig nahm er das Relikt aus dem Kästchen, um es näher zu betrachten. Das kühle Metall auf seiner warmen Haut rief eine leichte Gänsehaut hervor. Es war eine überaus angenehme Empfindung.
Der General musste daran denken, wie viele große Staatsmänner dieses Stück Metall bereits in den Händen gehalten hatten und wie vielen die Lanze als Wegweiser durch das Dunkel ihres eigenen Schicksals diente. Nur ein Narr konnte an der großen Macht zweifeln, die die sogenannte »Lanze des Longinus« ihren Besitzern zu verleihen in der Lage war. Nicht umsonst wurde sie auch »Speer des Schicksals« genannt.
»Wie ist es Ihnen gelungen, sie aus der Hofburg zu entfernen?« »Wir hatten Mittelsmänner«, antwortete der Superior kurz und bündig. »Ohne diese wäre es uns niemals möglich gewesen, in die Festung der Hofburg vorzudringen.«
Das konnte der General mühelos nachvollziehen. Er wusste, dass die Lanze zu den Reichskleinodien zählte und somit strengstens bewacht wurde – noch dazu unter mit Alarmschutz gesicherten Glasvitrinen. Unter normalen Umständen war es unmöglich, sie zu entwenden.
Die »Söhne Luzifers« hatten allerdings schon vor geraumer Zeit damit begonnen, das Sicherheitspersonal der Wiener Hofburg an den für ihren Plan relevanten Stellen auszutauschen - gegen Mitglieder ihres Ordens oder ihnen wohlgesonnene Leute.
Es war keine einfache Aufgabe, zumal die »Bewahrer des Lichts« seit vielen Jahren über die Reliquie wachten. Das war ihren Gegenspielern sehr wohl bekannt. Sie hatten den Orden stückweise unterwandern müssen, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Geduld hatten sie gebraucht, um ihre Leute als vertrauenswürdig in die Hofburg einschleusen zu können. Niemand sollte Verdacht schöpfen.
Zu guter Letzt war dann alles ganz einfach gewesen:
Während die einen – durch einen fingierten Unfall am anderen Ende der Hofburg – dafür sorgten, dass sich die komplette Aufmerksamkeit vom Saal mit den Reichskleinodien weg in den anderen Raum verlagerte, schafften es die anderen Brüder, die Alarmanlage für den Bruchteil weniger Sekunden auszuschalten. Diese Zeit hatten sie gebraucht, um sich der Speerspitze zu bemächtigen. Binnen kürzester Zeit hatten sie das Original gegen eine nahezu identische Kopie ausgetauscht.
»Lassen Sie uns sehen, wie lange es dauern wird, bis sie diesen Tausch bemerken«, sagte der General hämisch.
»Ich bin sicher, dass das schon passiert ist«, vermutete sein Besucher. »Aber sie würden es wohl niemandem sagen!«
Durch den Austausch der Lanze gegen eine Kopie war den »Söhnen Luzifers« zweifellos ein genialer Schachzug gelungen. Die Bewahrer konnten den Diebstahl nicht publik machen. Ein durch die Medien angefachtes Interesse am Raub eines wertvollen Reichskleinods würde zu viel Aufruhr bewirken. Das wollten sie nicht. Beide Orden waren es gewohnt, in der Verborgenheit zu agieren.
Dass die »Söhne Luzifers« die Lanze in den Händen hielten, war zudem ein erster großer Triumph über die Bewahrer.
Und es war der unschlagbare Beweis, dass sie ihnen zumindest ebenbürtig waren.
Zwar war der Orden, den der General so abgrundtief hasste, nun gewarnt, gleichwohl mussten die Bewahrer in Sorge sein, dass sie dieses Mal ohne echte Chance waren. Er fühlte sich ihnen immer einen Schritt voraus. Die Bewahrer waren in der Defensive. Und genau das, so hatte der General es sich in seinen Gedanken ausgemalt, würde wiederum gewisse Auswirkungen auf den Schutz des Schreins haben, nach dem er suchte. Nur beide Reliquien zusammen öffneten schließlich den Weg zur wahren Macht.
Der General legte die Lanze respektvoll zurück in das Kästchen. »Was wird weiter geschehen?«, fragte er.
»Der Speer hat seine ganze Kraft noch nicht erlangt«, erklärte der Superior. »Wir müssen noch Geduld haben.«
»Die Sonnenfinsternis!«
Der General wusste von dem Ritual, das sie an besagtem Tag des kosmischen Großereignisses durchführen mussten.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, mahnte der Superior.
»Ich weiß!«
Viele Gelegenheiten, herauszufinden, an welcher Stelle die »Bewahrer des Lichts« den Gral verborgen hielten, blieben dem General nicht mehr. Umso dringender brauchte er diese Papiere, schließlich war er bestens darüber informiert, was geschehen würde, wenn er versagte. So, wie es seinen Ahnen vor über einem halben Jahrhundert passiert war.
Auch sie hatten damals die Lanze in ihrem Besitz –
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