Es wird Dich rufen (German Edition)
wiedergefunden hatte.
»Als ich das Dorf zum ersten Mal betrat – und das ist schon so lange Zeit her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann –, war Rennes-le-Château noch dieses abgeschiedene, ruhige, beschauliche und kleine Bergdorf, in das sich nur sehr selten jemand verirrte. Manchmal, wenn ich heute die Massen an Menschen an mir vorüberziehen sehe, wie sie von der Kirche zur Villa, von der Villa zum Turm und dann wieder zurückeilen, nur um sich noch schnell mit Souvenirs einzudecken, dann wünsche ich mir diese Zeit zurück.«
Sehnsucht erfüllte Jean. Es war die Sehnsucht nach jenen längst vergessenen, besseren Tagen, als er mit Marie Dénarnaud an der Brüstung von Saunières Anlage stand und sie beide auf die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen geblickt hatten. Ja, damals waren nur diejenigen in das Dorf gekommen, die wirklich wussten, weshalb sie hier waren.
»Die Zeit ist schnelllebig geworden, junger Freund«, sagte Jean leise. »Die Helden von damals sind Geschichte. Und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Wer weiß schon noch all die wunderbaren Dinge zu schätzen, die dieser Planet uns bietet? Wer schaut noch hin, wenn sich am Morgen die Blütenblätter einer Blume öffnen, um die wunderbare Energie der Sonne in sich aufzunehmen. Wer fragt sich noch, was in den anderen Menschen vor sich geht und wer hat noch Zeit für die kleinen Rätsel und Geheimnisse dieser Welt?«
Jean seufzte.
»Ja, ich merke es sehr oft: Ich bin älter geworden und die Zeit scheint immer schneller zu vergehen und niemand kann sie aufhalten. Viele haben es versucht und einige wenige sind noch so optimistisch, dass sie daran glauben, es schaffen zu können. Doch das ist eine Utopie!«
Sie waren währenddessen an dem Buchladen angekommen.
Die Sonne tauchte das gegenüberliegende Château in ein helles Licht, als wäre es der Hauptdarsteller eines Theaterstücks, der soeben zu seinem letzten großen Monolog ansetzte, um danach die Bühne für immer zu verlassen.
»Sehen Sie sich die Touristen an, die hierherkommen«, fuhr Jean fort. »Da rennen sie durch den Ort, diese von der Konsumgesellschaft gesteuerten Roboter-Menschen, nehmen das in sich auf, was man ihnen vorsetzt, ohne etwas zu hinterfragen. Keiner von ihnen weiß, auf welch heiligem Grund sie sich hier wirklich bewegen! Im Gegenteil – ihnen wird das Märchen eines Priesters vorgesetzt, der einen Schatz gefunden hat. Auch wenn die Fakten, die auf dem Tisch liegen, das widerlegen – wen interessiert das? Niemand will mehr selbstständig denken. Alles wird einem vorgekaut. Es ist ein einfacher Weg – aber ein sehr effektiver. Und wir stehen erst am Anfang einer erschreckenden Entwicklung. Warten Sie es ab, junger Freund: Hass, Neid und Missgunst werden von Tag zu Tag größer werden. Die Nächstenliebe, das Miteinander, das Gefühl für die Gemeinschaft, für die Schwachen und Armen, die sich alleine nicht helfen können, das Zuhören, der Blick für diejenigen, die Hilfe brauchen – all das wird verschwinden. Es ist ein schleichender Prozess – aber er ist unaufhaltsam.«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, nahm Mike die ernsten Worte des alten Mannes in sich auf.
»Dann sollten Sie es tun, junger Freund!«, mahnte Jean. »Sie sind Journalist. Sie haben die Feder in der Hand und Sie haben das Wort! Es ist die mächtigste Waffe, die je erfunden worden ist – nur begreifen das manche nicht. Ist Ihnen eigentlich jemals klar geworden, wie leicht Sie die Menschen mit dem, was sie schreiben, manipulieren können?«
»Das halte ich für übertrieben!«, widersprach Mike vehement. »Ich gebe in meinen Berichten eine objektive Schilderung ab. Da gibt es nichts zu manipulieren!«
»Objektiv?« Jean lächelte wissend. »Ich sah das früher genauso wie Sie. Aber denken Sie nach! Benutzen Sie Ihren Verstand! Sie werden erkennen, dass es eine echte Objektivität niemals geben wird. Sie manipulieren alleine schon mit der Entscheidung darüber, was Ihnen wichtig ist. Letztlich sind Sie es, der auswählt, worüber und wann Sie berichten wollen, nicht wahr?«
Mike war verblüfft. So hatte er seinen Beruf noch nie gesehen, allerdings konnte er Jean nicht ernsthaft widersprechen.
Spontan musste Mike an die vielen Pressekonferenzen denken, die er im Laufe seines Berufslebens hinter sich gebracht hatte. Manchmal saßen dort mehr oder minder wichtige Persönlichkeiten, die lange Zeit über ihre Anliegen sprachen, nachdem sie ausführliche Pressemappen verteilt
Weitere Kostenlose Bücher