ESCORTER (German Edition)
auf einem Scheiterhaufen. Dann war es plötzlich vorbei. Gäap stieg die Stufen auf der anderen Seite hinab und stellte sie auf die Füße.
Vor Erleichterung wurden Doreés Knie weich und sie musste sich ihm abstützen, um nicht umzukippen. Seine Umarmung besänftigte ihr aufgebrachtes Gemüt. Nachdem sie sich beruhigt hatte, wagte sie einen Blick in die Runde. Sie befanden sich auf einer Art Insel oder einer Plattform, die vollständig von dem Feuerfluss umschlossen wurde. Nur über die Brücke gelangte man hinein und auch wieder hinaus. In der Mitte befand sich ein rundes, pagodenförmiges Gebäude, riesig in seinen Ausmaßen.
»Was ist das?«, fragte Doreé.
»Das Zentrum dieser Stadt«, erwiderte Gäap mit funkelnden Augen. »Der Tempel Babylons.«
27
Zaghaft öffnete Jakob die Augen. Absolute Finsternis umgab ihn. Keine Kellerwände, kein Zischen, kein neuer Schmerz. Das Peitschen war endlich verstummt. Noch immer sah er Irinas Gesicht vor sich. Das Entsetzen in ihrem Augen, als sie erkannte, dass sie in die Tiefe stürzen würde, dass sie jemand gestoßen hatte. Wer hatte das getan? Jakob wusste es nicht, spürte nur die Verzweiflung und den unbändigen Zorn, der ihn bei dem Anblick überkommen hatte. Irina. Ein Opfer erbracht für ihn.
Die Erkenntnis spülte eine Welle des Schmerzes über ihn hinweg. Wimmernd schloss er die Augen. Gefühle waren etwas Scheußliches. Er wollte nicht fühlen, wollte lieber sterben, als diesen Schmerz zu ertragen, der noch viel schlimmer war als die Schmerzen, die sein zerfleischter Rücken verursachte. Tränen tropften in die absolute Schwärze um ihn herum. Tränen, die er niemals hatte vergießen wollen. Die Mauern seines inneren Gefängnisses vibrierten unter der geballten Kraft seines Zorns und seiner Traurigkeit.
Im Geiste rief er Irinas Namen. Wieder und wieder. Er spürte ihre Lippen auf seinem Mund, an seinem Hals, ihre Hände, die ihn berührten. Hatte sie das freiwillig getan oder nur, weil die Gideonisten es von ihr verlangt hatten? Die Vorstellung, sie könnte es in Ben Nurus Auftrag getan haben, beschämte und verletzte ihn auf eine ihm bisher unbekannte Weise. Schnell verdrängte er den Gedanken und begann, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Wo befand er sich? Nicht mehr in dem Keller, so viel war gewiss. Da er nicht das Geringste sehen konnte, war die Mutmaßung über seinen Aufenthaltsort jedoch reine Spekulation.
Vorsichtig tastete er über den Boden. Rau und hart fühlte er sich an, wie Stein. Ein Laut drang an sein Ohr. Zuerst dachte er, er käme von außen, doch dann merkte er, dass er schluchzte. Lächerlich. Langsam verlor er wirklich die letzten Reste seines Verstandes.
»Warum weinst du, mein Sohn?« Eine zarte Stimme aus dem Nirgendwo.
Erschrocken zuckte Jakob zusammen und blickte auf. Über ihm erhob sich ein Wesen, das von innen heraus zu leuchten schien. Haarlos war es mit einem alterslosen Gesicht. Weder Mann noch Frau. Es trug eine goldene Rüstung, die schimmerte wie ein ferner Stern. Ein mächtiges Schwert lag in seiner Hand. Am wundervollsten aber waren die Flügel. Durchscheinend wie Glas, durchzogen von changierendem Rauch, der die Konturen aus der undurchdringlichen Schwärze schälte. Das musste Luzifer der Lichtbringer sein.
»Ja«, bekräftige das goldene Wesen, als hätte es seine Gedanken vernommen. »Ich bin Luzifer. Bewahrer des Friedens. Mag Satans Baum der Erkenntnis einst den Sieg errungen haben, ich werde nicht versagen in diesem Reich.«
Kannst du meine Gedanken hören? , dachte Jakob.
Luzifer schmunzelte. »Ich sehe und höre alles.«
Ich suche meine Schwester, weißt du, wo sie ist?
»Sie befindet sich im Herzen Babylons im Tempel der Satana.«
Bevor Jakob fragen konnte, was dies bedeutete, reichte ihm Luzifer seine schimmernde Hand. »Liege nicht am Boden wie ein Gefallener. Steh gerade und stolz.«
Zögerlich ergriff Jakob die Hand. Hoffnung durchströmte ihn bei der Berührung. Ein goldener Hauch legte sich auf seine Haut, dort wo Luzifer und er einander berührten. Erstaunt betrachtete er seine Finger, beobachtete, wie der Hauch langsam verging und nichts hinterließ als ein warmes Kribbeln.
Weißt du, warum ich hier bin? , fragte er stumm.
Luzifer nickte, antwortete aber nicht.
Kannst du mir helfen?
»Nein. Ich bin nur der Wächter und kein Richter.« Er legte den Kopf schief und beäugte ihn. »Du quälst dich«, stellte er fest und legte eine Hand auf Jakobs Brust.
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