ESCORTER (German Edition)
Geschwür. Etwas Schreckliches war mit ihrem Vater geschehen. Sie spürte es so deutlich, als wäre jemand bei ihr gewesen, um es ihr zu sagen.
Mama, dachte sie nur. Was hast du getan?
Benommen rieb sie sich über die Stirn, bündelte ihre Haare und warf sie auf den Rücken, bevor sie sich an den Bettrand schob und aufstand. Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass sie gerade mal drei Stunden geschlafen hatte. Wenn überhaupt. Rechnete man die Zeit mit, die sie bis zum Einschlafen gebraucht hatte, tendierte ihr Schlafpensum gegen null.
Barfuß tapste sie zum Fenster und blickte hinaus. Dick und bleich hing der Mond am Himmel, die Sterne überboten sich mit ihrem Glanz. Je länger sie in den Nachthimmel starrte, umso mehr Sterne erblickte sie, bis das gesamte Firmament glitzerte wie ein schwarzes Meer, in dem zahllose Diamanten schwammen. Eine Sternschnuppe fiel und verglühte in der Atmosphäre. Doreé legte die Finger an die Scheibe, fuhr den Weg des fallenden Sterns nach. Sie fühlte sich wie diese Sternschnuppe. Im freien Fall geradewegs ihrer Vernichtung entgegen. Sei unser Gast, hatte Ben Nuru beim Abendessen gesagt und: Wir werden dich beschützen . Sie schnaubte. Wem versuchte er etwas vorzumachen? Sie war so wenig ein Gast wie die Gideonisten eine unschuldige Gruppe religiöser Glaubensbrüder waren. Sie behandelten sie höflich, solange sie sich kooperativ zeigte und David für sie bürgte.
David. Bei dem Gedanken an ihn riss ein feiner Schmerz an ihrer Seele. Es verletzte sie, dass er von den Gideonisten auf sie angesetzt worden war. Sogar sehr. Sie hatte geglaubt, ihn zu kennen. Ein Irrtum, wie sie schmerzhaft feststellen musste. Sie kannte ihn noch weniger als die Frau, die sie geboren hatte. Und dann die Sache mit den Escortern und dem Dämon, mit Ophelia und Ben Nurus Vermutung über die Abstammung ihres Vaters. Von einem Tag auf den anderen war ihre Welt bevölkert mit Gestalten, die es eigentlich nicht geben durfte. Und sie war nicht nur Teil davon, nein. Wenn sie Ben Nuru glauben durfte – und warum sollte sie nicht –, dann spielte sie auch noch eine große Rolle in dem Gerangel um die Vorherrschaft der beiden Seiten. Das war absurd.
Ihre Finger lagen noch immer auf der Scheibe, als eine weitere Sternschnuppe über das Firmament huschte und in der Atmosphäre verglühte. Traurig lehnte sie die Stirn gegen das Glas. Sie wollte nicht hier sein und sich in die Pläne der Gideonisten fügen, genauso wenig wie in die Pläne des Escorter Clans. Doch wohin sollte sie gehen? Es gab niemanden, der ihr Zuflucht gewähren würde. Sie war ganz allein. Heimatlos, vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Die Endgültigkeit dieses Gedankens ängstigte sie und weckte zugleich ihren Zorn. Wütend presste sie die Fäuste gegen die Scheibe.
Sie überlegte, wie viel Geld sich auf ihrem Girokonto befand und wie hoch ihr Dispo war. Wenn sie jeden Cent zusammenkratzte, könnte sie fliehen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Hatte sie nicht auch ein Sparbuch?
Der Gedanke an einen Neubeginn kam ihr ganz spontan, und je länger sie darüber nachdachte, umso besser gefiel er ihr. Was hielt sie noch hier außer der Angst vor dem Alleinsein? Hilfe konnte sie hier genauso wenig erwarten wie bei ihrer Mutter. Waren sie nicht alle Lügner und David ihr Meister?
Verlogen. Selbstsüchtig. Berechnend.
Sie reckte ihren Hals und spähte nach Davids Volvo, der auf dem Gehweg an der Straße parkte. In der Nacht würde es ihr gewiss nicht gelingen, in den Besitz des Schlüssels zu gelangen, doch am Morgen sah die Sache anders aus. Sobald er das Zimmer verließ, könnte sie hineinschleichen und den Schlüssel an sich nehmen. Am Mittag wollte jemand namens Maria mit ihr zusammen Kleider organisieren, hatte Ben Nuru ihr erzählt. Bis dahin musste sie weg sein. Aufgeregt legte sie sich wieder hin. Sie musste Kraft tanken für den kommenden Tag. Doch der Schlaf wollte sich noch weniger einstellen als zuvor. Stundenlang wälzte sie sich auf dem Laken herum und fiel nur sporadisch in einen leichten Dämmerschlaf. Als sich endlich der graue Morgen von Osten über den Himmel wälzte und die Sterne verblassten, gab sie es schließlich auf. Gemeinsam mit dem ersten Licht drang das morgendliche Konzert der Vögel durch das Fenster zu ihr herein, was sie hoffnungsfroh stimmte. Vögel, die den kommenden Tag besangen, konnten nur ein gutes Zeichen sein. Sie stand auf und tapste über den Flur ins Badezimmer, um sich zu waschen. Vielleicht
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