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ESCORTER (German Edition)

ESCORTER (German Edition)

Titel: ESCORTER (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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verlassen hatte? Warum hatte er seine Meinung geändert? »Ich bin nicht wie du«, sagte sie und senkte den Kopf. »Ich tauge nicht zur Märtyrerin.«
    »Ob du dazu taugst oder nicht, wenn es hart auf hart kommt, wirst du dich entscheiden müssen. Dein Leben für Sicherheit und Frieden.«
    Sie wollte sich nicht entscheiden und sie wollte sich nicht opfern für etwas Abstraktes wie den Weltfrieden. »Was hat Gäap denn getan, als er das letzte Mal hier gewesen ist?«
    »Er hat einen Weltkrieg angezettelt, in dem Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten, und nebenbei hat er noch sechs Millionen Unschuldige inhaftiert und in den Tod geschickt.«
    Doreé erbleichte. »Wer war er?«
    David hielt ihren Blick, sah ihr fest in die Augen. »Du kennst ihn gut, Doreé. Er ist Teil der deutschen Geschichte. Ein Mann, der Künstler werden wollte, bevor er seinen Escort empfangen hat.«
    »Hitler war ein Escorter?«
    David schnaubte. »Schwer zu glauben, was? Stell dir vor, der Holocaust hätte verhindert werden können durch den Tod eines Einzigen. Durch Hitlers Tod.«
    Seufzend legte er sich wieder auf den Bauch. »Würdest du bitte die Salbe auftragen? Die Striemen brennen wie verrückt.«
    Doreé nickte. Sie fühlte sich wie betäubt, als hätte sie jemand in eiskaltes Wasser getaucht, bis all ihr Fühlen und Denken gefror. Gestern noch hatte sie Hoffnung in sich getragen, hatte Davids Zärtlichkeiten genossen und an eine gemeinsame Zukunft geglaubt. Nun stand sie vor einem Abgrund. Vor der Entscheidung, sich notfalls zu opfern für eine Menschheit, über die sie sich bisher wenig Gedanken gemacht hatte und von der sie nicht wusste, ob sie ihr überhaupt etwas bedeutete.
     
     
    * * *
     
     
    Die ganze Nacht lang hielten sie einander an den Händen, schlaflos. David weigerte sich, Schmerzmittel zu nehmen. Er sah die Schmerzen als Teil seiner Buße. Doreé indessen hatte schreckliche Angst. Die Möglichkeit ihres eigenen Todes, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte, verfolgte sie bis in die kurzen Schlafphasen hinein. Und auch der geflügelte Hengst erschien ihr im Traum. Er ritt im Zwielicht einer mondlosen Dämmerung über einen zerfurchten Acker, auf dem nicht ein einziger Grashalm wuchs. Nebelfelder waberten dicht über dem Boden. Ein unglaublich großer, schwarzer Baum erhob sich, genau in der Mitte, mit knotigen, verwinkelten Ästen, die eine ganze Stadt umspannen konnten. Die Nebel flossen um ihn herum, tasteten sich an der von Furchen und Rissen verunstalteten Rinde entlang, umschmeichelten die bösartige Trostlosigkeit, die der Baum ausstrahlte.
    Aus Gäaps Pferdeleib formte sich ein schöner Mann. Groß, stattlich und dunkel. Ein Prinz aus tausendundeiner Nacht. Er lachte.
    Keuchend schreckte Doreé aus dem Schlaf. David zog sie zu sich heran, strich über ihren Arm und flüsterte Worte des Trostes. Seine Nähe sollte sie beruhigen, doch der Geruch von Zinksalbe, die seine Wunden auf dem Rücken verströmten, erinnerte sie daran, dass die Realität nur unwesentlich besser war als ihre Träume.
    »Sobald die Sonne aufgeht, verschwinden wir hier«, versprach er.
    Doreé horchte in sich hinein. Blieb ihnen noch Zeit bis zum Morgen? Nur gedämpft drangen die Gefühle ihrer Mutter zu ihr durch. Sie konnte sie kaum noch von ihren eigenen unterscheiden und auch nicht erkennen, wie nahe sie war. Seufzend schloss sie die Augen.

 
     
     
     
21
     
    Sul’ov war ein beschissenes Nest in einem beschissenen Land, dass Desoderia niemals freiwillig bereist hätte, würde ihre verfluchte Tochter sie nicht dazu zwingen. Es war ihr völlig unverständlich, was das Mädchen hier zu suchen hatte. Gewiss hatte es etwas mit diesem Gideonisten zu tun, der sie vor dem Schatten gerettet hatte. Wähnte er sie wirklich in Sicherheit hier?
    Müde rieb sie sich über die Augen. Das Band forderte seinen Tribut – das und Amir, der sie kaum schlafen ließ. Ständig forderte er sein Recht als der neue Mann an ihrer Seite, und weil sie ihn nicht gegen sich aufbringen wollte, spielte sie die Rolle der sehnsuchtsvollen Geliebten. Sie musste ihn bei Laune halten, denn wenn alles schief lief, war er der Einzige, der zwischen ihr und Verbannung oder gar Todesstrafe stand. Glücklicherweise hielt sich der Blutverlust in Grenzen, doch sie fühlte den Fremdkörper, als hätte man ihr spitze Kiesel unter die Haut genäht. Bis auf einen goldenen Streifen, der hier und da hervorblitzte und geringe Mengen verkrusteten Blutes war nichts mehr von

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