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Eskandar: Roman (German Edition)

Eskandar: Roman (German Edition)

Titel: Eskandar: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siba Shakib
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Aftab-Khanum.
    Wollen Sie mich nun immer weiter angreifen, oder wollen Sie das Gedicht hören?
    Das Gedicht hören, antwortet Aftab-Khanum keck.
     
    Ein Rinnsal stößt auf einen starken Felsen.
    Weiche, sagt das Rinnsal zum Felsen.
    Wer bist du, dass du mich anzusprechen wagst? Weiche, du.
    Doch das Rinnsal gibt nicht auf.
    Es gräbt sich einen Weg unter dem riesigen Felsen, der so schmal ist wie es selbst, doch es unterspült den Felsen, bis sich der Boden darunter lockert und der Fels seinen Halt verliert und stürzt.
     
    Die letzten Zeilen habe ich so oft rezitiert, dass ich sogar noch weiß, wie
    ich jede einzelne Silbe betont habe, sagt Eskandar-Agha.
     
    Durch Anstrengung wirst du alles dir erarbeiten,
    alles wirst du erreichen, so wird es sein.
    Geh und scheue die Mühe nicht,
    denn gibst du auf, bleibt dir nichts als der Tod.
    Wer hingegen standhaft ist in seinem Tun und Streben,
    für den wird bleiben kein Hindernis.
     
    Das kleine Rinnsal sind wir Iraner, erklärt Eskandar, und der Felsen, das sind die Besatzer, die unser Öl stehlen, und der Felsen sind die Weltmächte, die auf unserem Grund und Boden ihre Kriege führen. Durch Anstrengung wirst du alles erreichen, das war die Botschaft, die die Männer für den Kampf motivieren sollte.
    Nehmen wir an, es würde heute wieder einen Reiter und einen Khan und eine Truppe geben, würden Sie sich ihnen wieder anschließen?, fragt Aftab-Khanum.
    Das weiß ich nicht, antwortet Eskandar-Agha und seufzt. Damals bin ich ein unbedarfter, unerfahrener Junge von neun oder zehn Jahren gewesen. Inzwischen aber habe ich viel gesehen und erlebt und weiß, was alles schieflaufen kann, und ich habe zu viel zu verlieren.
    Ich beneide Sie, sagt Aftab-Khanum. Um die vielen Dinge, die Sie in Ihrem Leben gesehen und bewegt haben.
    Das Schönste von allem, was ich im Leben gefunden habe, sind Sie, meine liebste Sonne, sagt Eskandar-Agha, sieht sich um und drückt seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Sie lächelt und legt rasch die Finger auf die Stelle, als wollte sie den Kuss bewahren.
    Am zweiten Tag ihres Zwangsaufenthalts in Esfahan zeigt Eskandar-Agha seiner Aftab-Khanum die zwei wankenden schmalen und fünf Meter hohen Minarette, die sich gegenüberstehen und auf mysteriöse Weise durch das Körpergewicht eines Menschen bewegt werden können.
    Mein Meister ist in den einen Turm gegangen und hat mich in den anderen geschickt, erzählt Eskandar. Ich bin die schmale Wendeltreppe hinaufgeklettert und habe mich an dem Mäuerchen zwischen den Öffnungen festgehalten. Hodjat-Agha hat auf seiner Seite das Gleiche gemacht und seinen Körper vor- und zurückgeschwungen. Ich konnte sehen, wie sein Minarett sich hin- und herbewegte, und mit einem Mal habe ich gespürt, wie auch mein Turm schwankte, erzählt Eskandar-Agha mit leuchtenden Augen.
    Das verstehe ich nicht, sagt Aftab-Khanum und betrachtet die Minarette skeptisch. Wie kann es sein, dass der eine Turm sich bewegt, nur weil der andere bewegt wird, und warum lassen sie sich überhaupt bewegen, ohne umzufallen?
    Das ist eine Frage, die nicht nur Sie, sondern auch unsere Farangi-Freunde brennend interessiert hat. Die Engelissi und Almani haben sogar ihre Wissenschaftler zu den Türmen geschickt und auch zum öffentlichen Hammam, das nur mit einer einzigen Kerze beheizt wird. Aber weder sind sie dem einen noch dem anderen Geheimnis auf die Spur gekommen. Und seit sie das Hammam auseinandergenommen und es wieder zusammengesetzt haben, funktioniert das mit der Kerze auch nicht mehr.
    Und wir lassen es geschehen, sagt Aftab-Khanum und erntet keinen Widerspruch von ihrem Mann.
    Bevor sie in die Karawanserei zurückkehren, gehen Eskandar-Agha und Aftab-Khanum über die berühmte Siyoseh-Pol-Brücke, die wie die schaukelnden Türme ebenfalls ein Wunder der Baukunst darstellt, weil sie sich in dreiunddreißig identischen Bögen und Kuppeln über den Zayande-Roud spannt, den Fluss, der niemals aufhört zu fließen und stets wiedergeboren wird, wie die Esfahini ihn stolz beschreiben. Unter jeder der dreiunddreißig Kuppeln haben Händler ihre Waren feilge boten und sogar dem eigentlichen Basar-e-Soltani, dem Basar der Sultane, mit seinen phantastischen Arkaden und Kuppeln Konkurrenz gemacht.
    Am Abend überredet Aftab-Khanum ihren Eskandar-Agha, mit ihr von Teehaus zu Teehaus zu ziehen. Er raucht Wasserpfeife, sie essen Brot, Weintrauben, Käse, trinken Tee und hören den Geschichtenerzählern und Derwischen der Stadt zu, wie sie alte

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