Eskandar: Roman (German Edition)
Die Verfassung, das Parlament, die inneren Kriege, zwei Weltkriege, die Besatzungen durch die Engelissi und Russi, der Staatsstreich der Amrikai, was glaubst du, was das alles gewesen ist?
Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, sagt Alexander, früher habt ihr gekämpft, und nun kämpfen wir.
WIR? Wer ist WIR?, schreit Roxana, während ihre Stimme sich überschlägt.
Meine Freunde, meine Kameraden und ich, antwortet Alexander stolz und so abweisend, dass Roxana-Khanum erschrickt.
Es ist meine Schuld, sagt Roxana unter Tränen. Ich habe meine Kinder zu lange ihrem eigenen Schicksal überlassen. Hilfesuchend sieht sie Agha-Eskandar an. Ich flehe Sie an, lieber Agha, versuchen Sie, den Jungen zur Besinnung zu bringen, vielleicht hört er auf Sie.
Mutter, bitte, niemand braucht mich zur Besinnung zu bringen, weist Alexander seine Mutter zurecht. Ich weiß, was ich tue. Und hör endlich auf, dich zu sorgen. Mir wird nichts passieren. Zu den meisten Dörfern führt ohnehin keine Straße und kein Weg, und deshalb werden sich keine Armee und kein Polizist jemals dorthin verirren. Wir haben alles durchdacht. Alexander strahlt. Monatelang können wir uns dort aufhalten und die Bauern aufklären, ohne dass irgendjemand die Lunte riecht. Und wenn erst einmal der Islam und der Kommunismus an der Macht sind, wird alles gut werden. Niemand wird mehr Hunger leiden, Frauen und Töchter werden nicht länger von den Arbab und Fremden entehrt, und jeder wird ein Leben in Frieden und Wohlstand haben.
Du wirst monatelang dort sein?, fragt Roxana. Was meinst du mit dort?
Meine Kampfgenossen und ich werden in ein Dorf verlegt, antwortet Alexander etwas weniger forsch.
O nein, faucht Roxana. Das wirst du nicht. Verstehst du? Ich verbiete es dir. Sie springt auf und gibt ihrem erwachsenen Sohn eine Ohrfeige.
Doch statt klein beizugeben, lächelt Alexander seine Mutter an. Erinnerst du dich an den Tag, als du uns zum Kababi geschleppt hast und die Panzer davor gestanden haben?
Erschrocken darüber, dass sie derart die Kontrolle verlieren konnte, hält Roxana sich die Hand vor den Mund und starrt ihren Sohn durch ihre Tränen hindurch an.
Du hast den Panzern des Königs deine Stirn geboten. Du hast gekämpft, und als wir aus dem Gefängnis entlassen worden sind, hast du uns gesagt, wir sollen ebenfalls kämpfen. Alexander spricht ruhig und gelassen. Für Freiheit, nehme ich an, und für Selbstbestimmung, stimmt doch, oder?
Junge. Verzeih. Du weißt, ich habe noch nie die Hand gegen dich oder deine Schwester erhoben.
Aber jetzt hast du es getan, antwortet Alexander. Er lächelt und macht den Eindruck, als würde er sich über die unbedachte Reaktion seiner Mutter sogar freuen. So als wäre ihre Ohrfeige der sichtbare Beweis für etwas, das schon lange unbemerkt zwischen ihnen gestanden hat.
Junge, du brichst deiner Mutter das Herz, sagt Eskandar-Agha.
Darf ich erinnern, sagt Alexander, in diesem Haus ist auf gebrochene Herzen noch nie Rücksicht genommen worden. Er sieht seine Mutter an und sagt: Oder glaubst du, es bricht das Herz eines Kindes nicht, wenn es mit ansehen muss, wie seine Mutter jahrelang vor sich hin vegetiert, statt sich um ihre Kinder zu kümmern?
Unfähig, ihrem Sohn zu antworten, starrt Roxana ihn nur an, und Tränen laufen über ihr Gesicht.
Und weißt du, was das Schlimmste ist? Dieses verdammte Selbstmitleid. Hör endlich auf damit, schimpft Alexander, geht in sein Zimmer, schließt die Tür ab, zieht die Vorhänge zu und erscheint erst nach Tagen wieder auf der Veranda, doch er spricht nicht ein einziges Wort.
Eskandar-Agha, Roxana, Nimtadj und sogar Agha-Farrokh versuchen ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sind freundlich zu ihm, versuchen zu scherzen, doch Alexander bleibt wie versteinert.
Lassen Sie ihm Zeit, rät Eskandar-Agha.
Doch Roxana-Khanum lässt einen Arzt kommen. Der Junge ist krank, sagt sie. Das spüre ich.
Alexander wehrt sich nicht, lässt die Prozedur über sich ergehen. Am nächsten Morgen allerdings findet Roxana-Khanum alle Medikamente, Döschen und Flaschen, die der Arzt für ihren Sohn dagelassen hatte, fein säuberlich auf dem Verandatisch aufgereiht. Er selbst ist wieder in seinem Zimmer verschwunden.
Der Winter und der Frühling kommen und gehen. Eskandar-Agha, Roxana, Nimtadj, Agha-Farrokh und Sahra lernen auf ihre Weise, mit Alexander und seiner schlimmen Krankheit, wie sie es nennen, umzugehen.
Eskandar-Agha nimmt sich vor, es dieses Mal anders zu machen als
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