Eskandar: Roman (German Edition)
ihre Straße kommt, für sie singt und kleine Geschichten erzählt oder vielmehr singt.
Eines Vormittags kommt ein alter Mann zu Eskandar-Agha in den Basar. Er trägt einen Turban, der so groß ist, dass er damit nicht nur seinen Kopf, sondern auch sein rechtes Auge bedeckt. Eine rote, wulstige Narbe beginnt unter seiner Lippe, zieht sich quer über sein Gesicht und verschwindet unter seinem Turban. Ich bin ein Kämpfer, sagt der Alte. Bereits als Junge habe ich begonnen und bis heute nicht aufgehört zu kämpfen, bis ich am Ende, wie du siehst, sogar das Licht eines Auges verloren habe.
Manche Leute sehen mit einem Auge mehr als andere mit zwei gesunden, erwidert Eskandar und versucht das unbehagliche Gefühl, das der Alte in ihm auslöst, zu verdrängen. Möge Allah dir ein langes Leben bescheren.
Allah sei gedankt, das hat er bereits, antwortet der Alte. Die Leute sagen, dein Name ist Eskandar. Nicht viele Männer tragen diesen Namen.
Ein Mann, von dem ich gewünscht hätte, er wäre mein Vater gewesen, hat ihn mir gegeben, antwortet Eskandar. Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, da bricht der Alte in Tränen aus, schluchzt und fällt ihm förmlich in die Arme.
Ich bin es, Eskandar, mein Sohn, sagt der Mann. Ich, der selbst ohne Vater aufgewachsen ist. Ich, der stolz gewesen wäre, dich als Sohn zu haben. Ich, der sich in Grund und Boden geschämt hat, als es hieß, dass du deinen Brotgeber bestohlen und die Lüge in die Welt gesetzt hast, deine Herrin habe sich dir hingegeben. Wie ein Dieb in der Nacht bist du verschwunden. Ohne Gruß und Abschied. All das Vertrauen, das ich, der alte Verwalter, sogar der Khan dir entgegengebracht haben, hast du genommen, bist gegangen und hast nicht mal mehr zurückgeblickt.
Eskandar läuft es kalt und heiß den Rücken runter, und er muss sich beherrschen, dem Alten nicht sein Essen vom Morgen vor die Füße zu spucken.
Ich bin vom Leben geschlagen und zu alt, um dir Vorhaltungen zu machen, sagt Hodjat-Agha mit zittriger Stimme. Ich bin nur gekommen, dich ein letztes Mal zu sehen, bevor ich diese Welt verlasse und zu meinem Gott gehe.
Verehrter Meister, verehrter, geliebter Hodjat-Agha, ich bin Ihr wertloser Diener, ich schäme mich. Ich bin es nicht wert, dass Sie mir meine Schuld vergeben. Ich bin jung und unwissend gewesen. Eskandar muss weinen, verbeugt sich tief, küsst die Hand seines Meisters und führt sie zu seiner Stirn.
Der Alte streicht Eskandar-Agha über den Kopf, und es fühlt sich an wie früher, als der Reiter Hodjat-Agha seinem kleinen Schützling über den Kopf gestrichen hat.
Gott verzeiht dem, der seine Schuld einsieht und bereut. Wer bin ich, Sterblicher, dir nicht zu vergeben? Mein armer Junge. Der Schaden, den du dir selbst zugefügt hast, ist der größte von allen.
Verehrter Meister, bei meinem Leben und beim Grab des heiligen Emam, ich habe niemanden bestohlen.
Niemals habe ich glauben können, dass du es getan hast, sagt Hodjat-Agha. Aber jetzt, nach all den Jahren, welche Rolle spielt das noch?
Der alte Reiter lächelt und kann nicht verbergen, dass es ihm eine kleine Genugtuung ist, nach dem Verrat, den Eskandar-Agha begangen hat, ihn jetzt ein wenig leiden zu sehen. Willst du wissen, was der Verwalter Agha-Mobasher gesagt hat?, fragt der Alte seinen früheren Schützling.
Eskandar-Agha will am liebsten schreien: Nein. Ja, bitte, Meister, sagt er.
Sein altes Auge blitzt, als Hodjat sagt, der Verwalter hat uns befoh len, wir sollen so tun, als hätte es dich niemals gegeben. Und tatsäch lich hat nie wieder einer von uns deinen Namen erwähnt.
All die Jahre habe ich mir alles Mögliche vorgestellt, jammert Eskandar-Agha. Ich dachte, der Agha wird seine Frau Mahrokh zwingen, ihm zu verraten, wohin ich geflüchtet bin; sie einsperren und zwingen, ihm ihren Besitz zu überlassen; ich dachte, er würde Jagd auf mich machen, und ich habe mich verfolgt gefühlt; nur dass ich als Dieb und Lügner verleumdet werde und dann vollständig in Vergessenheit gerate, das habe ich mir nicht vorgestellt.
Die Vergangenheit ist vergangen, und jetzt ist jetzt, sagt der alte Hodjat-Agha mit seiner kratzigen Stimme. Komm, sagt er. Du sollst mir einen letzten Wunsch erfüllen, bevor ich diese Welt und auch dich verlassen werde.
Jeden Wunsch, Meister, murmelt Eskandar wie betäubt. Selbst mein Leben gäbe ich für Sie.
Das ist nicht nötig, sagt der Alte. Lebend hast du einen größeren Nutzen für mich. Bring mich hinaus zu den Ruinen der alten
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