Esper unter uns
Schmerzimpulse, die sie übermittelte, ihm über alle Zweifel verrieten, was mit ihr geschah.
Die Wirkung des Sedanols ließ immer schneller nach, als das Reflexadrenalin seiner Wut seine bewußten Anstrengungen verstärkte. Er zog sich hastig an und hatte das Glück, daß ein Fahrstuhl in seiner Etage stand.
Die Sinneseindrücke, die der Schrei mit sich trug, wurden immer bildhafter, je mehr er sich ihrer Quelle näherte. Er wußte, daß Flower im U-Bahnhof Temple zu finden war. Hätte sie nur ein Flugtaxi genommen, statt die U-Bahn, wo so manche Banden nächtlich ihr Unwesen trieben. Zwar verkehrten die computergelenkten Züge vierundzwanzig Stunden am Tag, aber zu dieser frühen Morgenstunde benutzten nur noch wenige sie.
Kaum erreichte er den Bahnhof, als ihm auch schon die ersten Zeichen kürzlichen Vandalismus auffielen. Erbrochenes stank auf den grauen Bodenfliesen vor der Reihe von Fahrkartenautomaten. Die Plattform mit den Kiosken versperrte ihm die Aussicht, aber er hörte Stimmen und Gelächter und im Hintergrund das ständige Geräusch der Rolltreppen.
Einige der Getränke-, Süßigkeiten- und Zigarettenautomaten waren eingeschlagen. Aus einem der ersteren sickerte Orangenlimonade auf die zertrampelten Überreste von zahllosen Zigarettenschachteln aus dem ausgeraubten Nachbarautomaten. Die Bildschirme von Nachrichtenapparaten waren zersplittert. Victors Schuhsohlen knirschten auf Glasscherben, als er der Vandalenspur in Richtung auf die Rolltreppen folgte.
Aufmunternde Schreie wurden zu spöttischen Rufen und Pfeifen. Gleichzeitig barst ein unerträgliches Echo von Flowers Schmerzen in Victors Geist.
Es waren etwa dreißig Hobs. Die meisten standen in ihren blauen Nadelstreifen Jacken mit dem Rücken ihm zugewandt und waren völlig darin vertieft, zu beobachten, was am automatischen Einlaßtor der Rolltreppe vorging. Victor spürte ihre tierische Gier, als sie die Beteiligten mit ihrem »Go – go – go!« antrieben.
Als er so nahe war, über die Schultern der Zuschauer zu blicken, sah er die obszöne Blasphemie der Untat unmittelbar unter dem Stationsschild »Temple«.
Flower, mit nur noch ein paar armseligen Fetzen ihrer Kleidung auf ihrem schmutzbesudelten Körper, lag mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Altar eines umgekippten Zigarettenautomaten. Zwei der Hobs standen hinter ihrem Kopf, und jeder hielt einen ihrer Arme, während zwei weitere Burschen ihre Beine an den Fußgelenken festhielten. Vom fünften war lediglich das stoßende Gesäß zu sehen, das sich im Rhythmus mit dem »Go – go – go!« bewegte, während rechts Hobs ungeduldig darauf warteten, daß sie an die Reihe kamen.
»Aufhören! Um Himmels willen …« Victor bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer. Heftig schob er sie zur Seite und rannte hindurch. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite und er hatte Flower schon fast erreicht, als ein Prügel auf seinen Hinterkopf herabsauste und er unter weißglühenden Schmerzen das Bewußtsein verlor.
Als er aus der Schwärze wieder emportauchte, fand er sich in einem neuen Alptraum. Er lag mit dem Rücken auf den harten Fliesen, und das endlose »Go – go – go!« schien durch das ganze Universum zu trommeln. Gleichzeitig war er jedoch von seinem männlichen Körper getrennt. Er war Flower, auf diesem schrecklichen Altar festgehalten, und jetzt zu auch nicht dem geringsten Widerstand mehr fähig.
Victor, mein Liebster, wo bist du? Hilf mir, bei allen Heiligen! Hilf mir …
Der Psihilferuf hatte nicht mehr viel Kraft. Ein dunkler Nebel hüllte ihren Geist ein, der auf seinen abgestimmt war, und Victor war nicht mehr in der Lage, sie durch die Schmerzen, die alles andere auslöschten, zu erreichen.
»Go – go – go!«
Der Tod war nahe. Ihrer? Seiner? Es bestand kein Unterschied. Jeder war so sehr Teil des anderen.
Hilflos teilte er ihre Schmerzen, und es war ihm klar, daß sein fruchtloser Versuch physischen Eingreifens schlimmer als nutzlos gewesen war und die aufgeputschten Sinne der Hobs nur noch mehr erregt hatte.
Das Donnern einer anhaltenden Bahn überdröhnte im Augenblick alle anderen Geräusche. Victor klammerte sich an den rettenden Strohhalm und stützte sich mühsam auf einen Ellbogen. Fahrgäste waren um diese Zeit selten, aber die Chance bestand doch …
Victor starrte mit vor Schmerz verzerrten und von Tränen verschleierten Augen auf das sich monoton bewegende Geländer der Rolltreppe und sah zwei Fahrgäste näherkommen – einen dicken Mann
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