Essen mit Freunden - Roman
hinterherschauen und dem Fernweh freien Lauf lassen. Da es bereits dämmerig und kühl wurde, nahm Luise sich eine der bereitliegenden Decken und lehnte sich an die Backsteinwand, die noch letzte Reste der Nachmittagssonne gespeichert hatte. Von drinnen hörte sie Stimmen. Musik erklang, wehmütig, voll Sehnsucht. Sie schloss die Augen. Schritte auf dem Parkett, Aufmunterungen in den Raum geworfen. Ein Akkordeon, das ihr beim Zuhören die Lungenflügel dehnte, ein Kontrabass, der an den Saiten ihrer Seele zupfte. Luise versank in Weite und Zeitlosigkeit, bis die Bedienung den Milchkaffee vor ihr abstellte. Sie nahm einen Schluck, drehte sich um und versuchte durch das Fenster einen Blick hineinzuwerfen. Paare bewegten sich durch den Raum, beinahe schwebend, wie Blätter im Wind, die alle derselben Strömung folgten. Dann traf es sie wie ein Schlag.
Sie hatte sich gefragt, wie es wohl sein würde, wenn sie sich gegenüberstünden. Sie hatte diese Begegnung seit Anfang des Jahres vor sich hergeschoben, sich immer wieder herausgeredet mit Terminen, mit Arbeit, mit anderen Dingen. Ihre Mutter war geduldig geblieben, obwohl beiden vermutlich klar war, dass das meiste Ausreden waren. Die Reise nach Argentinien war ein Bruch gewesen. Seit über drei Monaten war ihre Mutter nun wieder daheim. Vorher hatte Luise sie beinahe alle zwei Wochen besucht, manchmal für einen Nachmittag, manchmal für ein paar Tage. Ihre Mutter hatte in der Zwischenzeit beharrlich Lebenszeichen ausgesendet. Rote Fäden, an die Luise hätte anknüpfen können. Sie hatte angerufen, SMS geschrieben, Mails geschickt. Zumindest was die modernen Kommunikationswege betraf, war
Paul eine Bereicherung. In ihrer beider Leben. Luise musste überrascht feststellen, dass es ausreichen konnte, nur drei Zeilen zu lesen oder zu senden, um sich des anderen zu vergewissern. Sie mochte diese kleinen Nachrichten, weil in den wenigen Sätzen eine unvermutete Nähe lag. Die Reduzierung auf den Umfang einer SMS konnte manchmal auch eine Konzentration auf das Wesentliche bedeuten. Wie bei einem Saucenfond. Nicht Quantität, sondern Intensität zählte. Ihre Mutter hatte auf diese Weise versucht, den Kontakt zu Luise zu halten und ihr gleichzeitig den Raum zu geben, den sie anscheinend brauchte, bis sie mit der neuen Situation klarkam.
Und nun sah Luise ihre Mutter durch die Fensterscheibe des Cafés nach so langer Zeit zum ersten Mal. Sie sah auch Paul, einen schlanken Mann mit weiÃen Haaren, gepflegt, sympathisch. Einen Mann, der seine Tanzpartnerin sicher führte. Sie sah ein Paar, das sich selbstvergessen umschlungen hielt, versunken in der Bewegung, in der Musik. In sich, in ihrem Miteinander. Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen und schmiegte ihre Wange an Pauls Hals. Diese Geste rührte Luise sehr. Sie hatte das Zusammenspiel ihrer Eltern immer als perfekt erlebt. Sie waren ein gutes Team gewesen. Ein gutes Team kann viel bewältigen, es kann Häuser bauen und Kinder groÃziehen. Es kann die Stürme des Lebens durchstehen. Dies hier war etwas anderes. Luise entdeckte plötzlich eine Seite an ihrer Mutter, die sie vorher nie gesehen hatte. Vielleicht brauchte es diesen Bruch, damit sie sie wirklich sah, wahrnahm, erkannte. Was erwartete sie eigentlich von ihrer Mutter? Sie schämte sich, fühlte sich ignorant und blind.
Die Musik setzte aus. Paul hielt seine Hedda noch einen
Augenblick in den Armen, bevor er sie freigab. Luises Mutter lachte, sagte etwas und deutete nach drauÃen. Paul nickte, reichte ihr eine Jacke und nahm ihren Arm. Einen kurzen Moment überlegte Luise, ob sie aufspringen und davonlaufen sollte, aber dann beschloss sie zu bleiben. Es war Zeit, die roten Fäden der letzten Monate zu verknüpfen. Sie wandte sich ab, versuchte sich zu sammeln, und erst als die beiden sich an den Nachbartisch gesetzt hatten, ohne sie erkannt zu haben oder weiter auf sie zu achten, drehte sie sich zu ihnen um und sagte: »Es sieht schön aus, wenn ihr tanzt, Mama.«
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»Und was war dann?«, fragte Anne, als Luise eine Pause in ihrer Erzählung machte. Sie saÃen bei Kaffee und Kuchen auf Luises Balkon.
»Na ja, nichts GroÃes. Wir haben uns in den Arm genommen, ein bisschen geheult, und dann hat sie mir Paul vorgestellt. Weiter nichts.«
»Weiter nichts? Meine Güte â dafür, dass du dich so lange vor dieser Begegnung gedrückt hast, ist das
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