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Esswood House

Esswood House

Titel: Esswood House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Straub
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bei Ihren Recherchen zu wünschen.«
    Standish dankte ihm.
    »Dann überlasse ich Sie Ihrer Arbeit.«
    »Prima.«
    Wall hatte ganz eindeutig entschieden, etwas nicht zu sagen, das ihm gerade in den Sinn gekommen war. Er nickte und ging, wie es aussah, absichtlich langsam weg.
    Standish schlenderte durch den großen Raum und versuchte, sich mit der Bibliothek als Ganzes vertraut zu machen. Er schaute in die Erker, verließ den zentralen Raum jedoch erst, als er glaubte, daß er das generelle Schema verstanden hatte.
    Die Seneschals hatten ihre eigene Bibliothek fast in geologischen Schichten angelegt. Die erste ernsthafte Akkumulation von Büchern schien im siebzehnten Jahrhundert anzufangen, wobei Religion noch eindeutig den Schwerpunkt bildete. Regal für Regal war mit Theologie gefüllt, Schriften zur Patristik in großen Lederfolianten, griechischen und lateinischen Kommentaren und Kirchengeschichten. Gebundene Bände mit Predigten füllten viele Regale. Im achtzehnten Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt der Sammlung hin zu Politik, Geographie und Naturgeschichte. Die einzigen erwähnenswerten literarischen Werke unter den zahlreichen Bänden über die Flora Australiens und Parlamentsmitschriften waren eine vollständige Sammlung von The Spectator, Johnson, Boswell, sowie verschiedene Ausgaben von Shakespeare, Marlowe und anderen elisabethanischen Dramatikern. Im neunzehnten Jahrhundert hatte sich der Bestand von Esswoods Bibliothek fast verdoppelt, erstmalig bildete jetzt die schöne Literatur den Schwerpunkt. Standish ging müßig an Büchern von Dickens vorbei, von den Sketches by Boz bis zu The Mystery of Edwin Drood in den Teillieferungen der Erstausgaben, Einzelbänden und gebundenen Ausgaben; vorbei an vollständigen Sammlungen von Trollope, Thackeray, Wilkie Collins, Cardinal Newman, Tennyson, Keats, Shelley, Matthew Arnold, Browning, Mrs. Gaskell und den Schwestern Brontë; vorbei an Reihen von The Cornhill in braunen Ledereinbänden; und Swinburne und Dowson und Oscar Wilde und Henry James - eine erstaunliche Menge Henry James, die Standish zur Sammlung des zwanzigsten Jahrhunderts führte.
    Edith Seneschal übernahm das Ruder etwa zur Zeit von The Ambassadors , schätzte Standish, und blieb die treibende Kraft der Bibliothek bis einige Jahre nach der Veröffentlichung von The Waste Land und Ulysses . Alles dazwischen, Georgianer, Edwardianer, Vortizisten, Imagisten, Futuristen, Kriegsdichter und Modernisten in Form von kleinen Literaturmagazinen, Flugschriften, Pamphleten, Broschüren und jeder erdenklichen Publikationsform, lag in einer Vollständigkeit vor, die nur ein leidenschaftlicher Sammler meistern konnte. Die rund fünfunddreißig Jahre währende Herrschaft von Edith beanspruchte so viel Regalfläche wie das gesamte neunzehnte Jahrhundert. Danach verkümmerte die Sammlung zu ein paar fast willkürlich ausgewählten Romanen - auf den letzten Regalen der Bibliothek standen Bücher von Auden, Spender, MacNeice, Isherwood, E. F. Benson, P. G. Wodehouse, Waugh und Kingsley Amis, die zu zeitgenössisch und beinahe fehl am Platz wirkten. Die letzten, fast achtlos hingestellten Bände waren Lunch Poems , The Tennis Court Oath und Anglo-Saxon Attitudes . Die Kinder der Seneschals hatten nie ernsthaft versucht, die Bibliothek von Esswood so zu pflegen wie ihre Vorfahren.
    Standish verspürte eine reine und unkomplizierte Sehnsucht, wie Robert Wall zu sein. Er sehnte sich danach, für immer an diesem Ort zu leben, ohne mit anderen Verpflichtungen belastet zu sein.
    Vielleicht konnte er Robert Wall werden. Nach Walls Tod mußte sich jemand um die Bibliothek kümmern. Warum nicht ein engagierter junger amerikanischer Gelehrter?
    Robert Wall trug seinen Namen zurecht. Er war ein Wall.
    Standish ging zum Fenster und sah über die Terrassen und den langen Teich zu den Feldern hinab. Ihm schien, als würde ihm das Herz übergehen, doch er vermochte nicht zu sagen, von welchen Gefühlen. Die Landschaft von Esswood war fast unerträglich schön. Die Sonne war höhergestiegen, alles vor Standish schien von Wärme durchdrungen und von einer entspannten, ruhigen akkumulierten Energie erfüllt, als könnte die Natur selbst unter ihrer Kraft aufplatzen, hätte aber beschlossen, es nicht zu tun. Eine Frau in einem langen, hellgrünen Kleid stand auf der anderen Seite des langen Teichs, unten am Ende der Terrassen, und sah mit einem undeutbaren Ausdruck zu dem Haus herauf. Sie mußte gerade unter den Bäumen

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