Esswood House
Isobel es mit eigener Stimme aussprechen hören. Sie hatte einen Abriß ihrer Erlebnisse in Esswood geschrieben und mit ihren restlichen Manuskripten der Bibliothek gestiftet.
Als er sich die Hände wusch beschloß er, die Memoiren am Abend zu lesen. Sie enthielten bestimmt unschätzbares Hintergrundmaterial für die Gedichte. Dann kam ihm der Gedanke, daß man die Memoiren ebenfalls veröffentlichen könnte. Er sah eine weitere lange Einleitung vor sich, ein weiteres bedeutendes Buch. Isobel Standish in Esswood: Eine Dichterin in der Blüte.
Standish stapfte gemächlich die Wendeltreppe hinunter.
Die Entdeckung - denn es handelte sich um nichts anderes als eine bedeutende Entdeckung - hatte zur Folge, daß er viel mehr als nur drei Wochen in Esswood verbringen mußte. Es würde bestimmt noch mindestens einen Monat dauern, die vielen hundert Seiten mit Isobels Handschrift durchzuarbeiten. Gleichzeitig mußte er ihre Gedichte in aller Gründlichkeit sichten. Er fragte sich, ob Wall ihm einen weiteren Monat gewähren würde. Wenn er stichhaltige Argumente vorbringen und deutlich machen konnte, welche Vorteile es für Esswood selbst mit sich brachte, sollte Isobels Abriß ihrer kreativsten Zeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden ... Und Jean würde ihm die Verlängerung verzeihen, wenn er vor ihrer Niederkunft zurückkehrte. Eine winzige, fast unsichtbare Flamme der Wut und Demütigung loderte in seiner Brust auf, als er an seine Frau dachte. Standish schüttelte den Kopf wegen den wallenden grauen Tentakeln der Spinnweben und streifte diese Gefühle ebenso ab wie das, was sie bedeuteten - er hatte jetzt keine Zeit für destruktive Emotionen. Die Wendungen der Treppe nahmen kein Ende und führten viel weiter hinab, über die Stelle hinaus, wo er die letzte Stufe erwartet hatte.
Schließlich kam er zum Ende der Treppe, lief hastig durch den kurzen Korridor zu der Tür und trat ein.
Er seufzte fast vor Freude. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Seiten, die Säulen hielten Wache, die wunderbaren Bücherreihen säumten die Wände. Das Porträt befahl ihm, Platz zu nehmen und zu arbeiten. Dann fielen ihm Walls Mitteilung und seine Reaktion darauf ein und er ging zum Haupteingang.
Vor der Tür der Bibliothek lagen, in einer geraden Linie auf dem Teppich angeordnet wie Kadaver von Mäusen, die eine wohlmeinende Katze hereingebracht hatte, eine Schachtel Büroklammern Größe A, drei gelbe Bic-Stifte, drei Notizbücher und drei Schnellhefter.
KAPITEL SIEBEN
Die Sonne stand tief, war aber noch zu sehen, als Standish die scheinbaren Entwürfe von Gedichten von den weitaus zahlreicheren Blättern mit Prosa getrennt hatte. Er schätzte die Anzahl der Seiten jeder Kategorie über den Daumen und kam zu dem Ergebnis, daß es sich um rund einhundert Seiten mit Gedichten, aber dem Neun- oder Zehnfachen dessen an Prosa handelte, wovon die Memoiren ungefähr die Hälfte auszumachen schienen.
Morgen konnte er den Inhalt der zweiten Kiste sortieren und, wenn er Zeit hatte, die Seiten mit den Gedichten in veröffentlichte und unveröffentlichte unterteilen; heute nach dem Abendessen konnte er damit anfangen, die Memoiren zu ordnen und zu lesen. Einen Augenblick wünschte Standish, Isobel hätte ihren Titel nicht hinter Initialen versteckt. Was sollte er von C. W. W. halten? Doch dann wich sein Ärger einer allgemeinen Zufriedenheit.
Noch eine Stunde bis zum Abendessen. Er beschloß, die Terrassen hinunterzugehen und sich an dem dunstigen Licht und den langen Schatten zu erfreuen.
Am Ende des abgeteilten Durchgangs ging er auf die breite Terrasse über der Marmortreppe hinaus und inhalierte so süße und wohlriechende Luft, daß sie einer Droge gleichkam. Kein Wunder, daß die Literaten aus London so bereitwillig nach Lincolnshire aufgebrochen waren: Nach dem rauchverhangenen, ungesunden London des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mußte ihnen Esswood wie ein Paradies vorgekommen sein.
Standish ging die Stufen hinunter, und seine Gelenke, die nach dem langen Tag am Schreibtisch steif waren, wurden beweglicher. Vier Stufen vom unteren Ende entfernt blieb er stehen und sah zurück zum Haus hinauf. Amerikaner brauchen immer eine Weile, bis sie unser System begriffen haben.
Und: Wollen Sie mich reizen?
Ah, ein in einen anderen Witz verpackter Witz.
Dann fiel ihm auf, daß das ganze riesige Haus unbewohnt aussah. Die Diener hielten sich irgendwo darin auf, die alte Miss Seneschal und der alte Mr. Seneschal mußten
Weitere Kostenlose Bücher