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Esswood House

Esswood House

Titel: Esswood House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Straub
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spürte, daß seine Schönheit nach ihr rief, zu ihr sprach, sie willkommen hieß. Nachmittags spielten die Gäste, die nicht emsig schrieben, Krocket, badeten im Teich, lasen für sich in der Bibliothek oder der Osthalle oder lasen sich in der Westhalle oder unter den Sonnenschirmen der großen Terrasse mit Blick auf den Teich und die fernen Felder gegenseitig vor. Die Abendessen waren prunkvoll: Gourmetmahlzeiten und vorzügliche Weine. Die junge Frau ließ ihre Vorliebe für Kalbslende mit Morchelsoße bekannt werden und erhob nicht die geringsten Einwände, als das Land ihr das eine Woche lang jeden Abend präsentierte. Es war kein bloßes Essen, sondern so etwas wie Ambrosia, und konnte eine Sterbliche zu Ambrosia nein sagen? Auch die Weine kamen Ambrosia gleich - an ihrem ersten Abend servierte man den Gästen einen Chateau Lafite-Rothschild 1900, am zweiten Abend einen Chateau Lafite-Rothschild 1872. Am dritten Abend bekamen die Gäste einen Lafite-Rothschild 1862, angeblich der beste Jahrgang der vergangenen hundert Jahre und vermutlich auch vortrefflicher als alle anderen Weine der nächsten hundert.
    Die Euphorie der jungen Frau war substantieller als die, die der Wein hervorrief, dauerhafter als angenehme Gesellschaft sie bewirken konnte und profunder, als man sie durch künstlerische Fortschritte oder eine wunderschöne Umgebung zu erlangen vermochte. Die Gefühle, die die junge Frau mit dem Land verband, waren an sich nicht religiös, doch scheinbar einer anderen als der rein materiellen Sphäre zugehörig - eine Kraft wie Musik oder ein körperloser Geist schien jedem Aspekt des Hauses und seiner Umgebung innezuwohnen. Am bemerkenswertesten am Gespinst der Gefühle und Empfindungen, die mit dem Land in Zusammenhang standen, war, daß es Fröhlichkeit nicht unterdrückte, sondern befreite. Die junge Frau gehörte von Natur aus nicht zu den Extrovertierten, aber dennoch schloß sie sich den Spielen der anderen Gäste an - Charaden und tableaus und Stegreifsketche und lachende Konversationen.
    Die junge Frau fand bis dato ungeahnten Spaß an Streichen - sie schlich durch ihren »geheimen« Korridor unbemerkt durch das Haus und begeisterte sich dafür, die Manuskripte oder Habseligkeiten eines Dichterkollegen durcheinanderzubringen und nachts wie ein Gespenst in ihren Zimmern zu erscheinen und wieder zu verschwinden.

    Standish, der den Blick nicht von den Seiten vor sich abwenden konnte, dachte: Und da bist du wieder, mein Mädchen.

    Sie hatte sich nie besonders für Kinder interessiert - obwohl ihr Ehemann sich welche wünschte -, hatte aber den Eindruck, daß der merkwürdig zarte und übermächtige Reiz des Landes zu einem großen Teil auf die beiden überlebenden Kinder ihrer Gastgeberin zurückzuführen war.

    Standish blieb fast das Herz stehen.

    Die Ruhe und Fröhlichkeit von E. waren umso erstaunlicher im Licht ihrer Vorgeschichte als Mutter. Der Mann von E., ein Vetter zweiten Grades, dessen Nachnamen sie schon vor der Heirat geteilt hatte, interessierte sich weder für Kunst noch das Landleben und schien für französischen Branntwein, italienische Frauen und das Unterhaus mehr übrig zu haben als für seine Familie - aber er hatte ihr fünf Kinder geschenkt, von denen drei schon in frühesten Jahren starben. Die beiden überlebenden Kinder, R. und M., konnten die Herzen der jungen Gäste des Landes durch ihren ruhigen, süßen und recht bezaubernden Charme für sich erobern: Sie hatten wenig Lebenskraft, denn auch sie hatten sich mutmaßlich die Krankheit zugezogen, die ihren Geschwistern zum Verhängnis geworden war. Diese schreckliche Krankheit, munkelte man, sei den Kindern vom Vater vererbt worden und fast immer tödlich. Die schwächlichen Kinder, Bruder und Schwester, verbrachten die meiste Zeit in der Obhut eines Kindermädchen und zeigten sich den Gästen vorwiegend am Spätnachmittag oder vor dem Abendessen. Abgesehen von der blassen Haut und hin und wieder glanzlosen Augen schien der Junge äußerlich kaum von der Krankheit betroffen zu sein; dem kleinen Mädchen sah man sie schon deutlicher an. Beide Kinder ermüdeten schnell und waren oft unmäßig hungrig - es gehörte zu den Symptomen der Krankheit, daß alle, die daran litten, alle paar Stunden enorme Mengen an Nahrung zu sich nehmen mußten, damit sie wenigstens ein geringes Maß an Energie aufbringen konnten. Die jungen Gäste erfuhren zu ihrem Erstaunen und sogar Mißfallen, daß der Arzt von E. darüber hinaus empfahl, den

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