Esti (German Edition)
eigentlich?, vielleicht noch am ehesten die Zirkuspferde sind Estis Leben geworden. Und irgendwie der grandiose, leichte Bandscheibenvorfall.
Leseliebe-Schmus
Esti hatte, wie es früher hieß, eine Romanze mit dem Lesen. Eine Leseliebe. Mit wem also, wann, wo?
Es ist egal, wann, bei Sonnenaufgang, bei Sonnenuntergang, bei Mondaufgang, bei Monduntergang, wenn der erste Schnee fällt, die erste Schwalbe da ist, am Dienstag, am Mittwoch, halb zwei, halb drei, halb vier, zu Weihnachten, zu Ostern, zu Mariä Himmelfahrt, zu Christi Himmelfahrt, am 3. August 1969, zu Silvester, zur Ernte, bei einer Sternschnuppe, als die 1956er Revolution ausbrach, als die Russen in Prag einmarschierten, die Polen in Polen, die Amerikaner in Kuwait, als die Russen Kabul, Budapest, Prag, Warschau, Kiew etc. verließen, als wir die Vojvodina bombardierten, als ich zum ersten Mal meine Periode hatte, zum zweiten Mal, zum dritten Mal, als mein Bruder ein Tor für die Deutschen schoss, als mein Großvater väterlicherseits starb, als meine Großmutter väterlicherseits starb, als meine Großmutter mütterlicherseits starb, als meine Mutter starb, als mein Vater starb, wenn ich sterben werde, im Augenblick des Todes, als meine Tochter geboren wurde, mein Sohn, noch eine Tochter, noch ein Sohn, als mein Enkel geboren wurde, beim Kuttelkochen, als deine Mutter uns die Tür öffnete, beim Zubereiten von Filet Wellington (blutig!, blutig!), es ist egal, wo, wie, im Sitzen, im Stehen, im Liegen, beim Spazieren, rennend, stürmend, fliegend, schwimmend, auf dem Bauch liegend, auf der Seite, auf dem Rücken, im Handstand (» möge doch jemand helfen «), in der Hocke, auf allen vieren, nackt, im Frack, mit Zylinder, in Fußballschuhen, in Pantoffeln, mit BH, im Lodenmantel, in der Pariser Metro, in einer Wiener Straßenbahn (Rennweg!), in der Berliner S-Bahn, im ersten Stock eines Londoner Busses, vor einer Explosion, während einer Explosion, nach einer Explosion (anstelle einer Explosion: was für ein schöner Gedanke!), im Bett, auf der Récamière, auf dem Sofa, in der Matratzengruft, auf dem Tisch, auf dem Stuhl, im Ohrensessel, auf dem Boden, an der Decke, im Keller, auf dem Dachboden, im Kühlschrank, in der Gulaschsuppe, nüchtern, unter Alkoholeinfluss, gut gelaunt, schlecht gelaunt, lustlos, in Peru, in Japan, in Hoyerswerda, egal mit wem, mit einem Klassiker, einem Zeitgenossen, einem Erfolgreichen, einem Erfolglosen, einem Unbekannten, einem halb Bekannten, einem viertel Bekannten, achtel, sechzehntel, zweiunddreißigstel, 2 hoch n, einem Großen, einem Kleinen, einem Blonden, einem Braunen, einem Schwarzen, einem Gelben, einer Frau, einem Mann, between (ich wiederhole mich), mit einem Jungen (fast noch ein Kind!), einem Alten (er sabbert), einem Großen (Kosztolányi), einem Sanften (Ödön von Horváth), einem mit großem Hintern (Balzac), einem mit Knoblauchzehenhintern (Joyce), und da capo, bei Sonnenaufgang –
Diese Affäre, dieses da capo ist Estis Leben.
Satzzeichenliebe-Schmus
Hymne auf das Semikolon. – Jetzt beantworten wir ausnahmsweise nicht die Frage, was ist der Ungar jetzt (»ein Gerippe nur«), und auch über den Franzosen sagen wir lediglich, dass er üblicherweise mit der Form, mit seinem leidenschaftlichen und sorgfältig ausgearbeiteten Verhältnis zu ihr, wenn auch nicht identifiziert, so doch in Zusammenhang gebracht wird; und mit der Liebe, davon jedoch sehen wir jetzt aufgrund des Mangels an Platz, Zeit und Liebe ab.
Es brauchte eine französische Schwiegertochter, denn zur Schwiegertochter gehört die Tastatur, um zu erfahren, dass auf der französischen Tastatur das Semikolon eher kommt als der Punkt, dass also das Semikolon direkt erreichbar ist, der Punkt aber über zwei Tasten. Ich weiß nicht, ob der verblüffende und radikale Charakter dieser Tastaturentscheidung ersichtlich, begreiflich ist. Beziehungsweise im Gegenteil, dass sie für die Franzosen selbstverständlich ist. Nicht wegen der Revolution, wegen dieser Semikolonanordnung müssen wir, wie der Dichter sagt, auf sie schauen.
Das Semikolon ist das literarischste Satzzeichen; denn Satzzeichen sind zugleich Redezeichen, das Semikolon jedoch am wenigsten: Sein Zuhause ist der Text, dort ist es heimisch, meistens ist es nicht zu hören, nur zu sehen. Und natürlich zu spüren und zu ersehnen.
Es trennt nicht nur Satzteile voneinander (oder verbindet sie), dies macht auf seine ungehobelte, mechanische, praktische oder praktisch bescheidene Weise
Weitere Kostenlose Bücher