Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
selbstverständlich, dass über Berufsausbildung oder Studium ein Normalarbeitsverhältnis auf Dauer erreicht wird. Ausbildungen und Studiengänge sind unsicher geworden; für die Generation Praktikum werden die Beschäftigungsverhältnisse labil. Phasen der Arbeitslosigkeit gelten vielen als unvermeidbar; sie werden von manchen deshalb in die Berufsbiographie eingeplant. Arbeit wird in einer neuen Weise zu einer ethischen Herausforderung – für diejenigen, die Arbeit suchen oder haben, für diejenigen, die über die Schaffung oder Streichung von Arbeitsplätzen entscheiden, für die Gesellschaft im Ganzen. Wie jedes andere in diesem Buch behandelte ethische Thema hat auch das Thema Arbeit personalethische, professionsethische und institutionsethische Aspekte.
Vom Normalarbeitsverhältnis zur Pluralisierung der Arbeitsformen
In den Industriestaaten des 20. Jahrhunderts hatte sich ein normatives Leitbild des Arbeitsverhältnisses herausgebildet. Es wurde als Normalarbeitsverhältnis bezeichnet und bildete die Grundlage für die Hochschätzung der Erwerbsarbeit. Unter einem Normalarbeitsverhältnis versteht man in der Regel eine Vollzeiterwerbstätigkeit, in der ein Arbeitnehmer unbefristet für ein und denselben Arbeitgeber tätig ist. Er erhält dafür ein Arbeitseinkommen, mit dem er seinen Lebensunterhalt oder doch dessen größten Teil bestreitet. Arbeitsplatz und Wohnung sind voneinandergetrennt. Soziale Risiken, vor allem Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alterserwerbslosigkeit, sind durch das Sozialversicherungssystem abgedeckt.
Doch diese Form der Erwerbsarbeit ist nicht mehr selbstverständlich. Die erste Ölkrise von 1973 und die mit ihr verbundene Beendigung des währungspolitischen Systems von Bretton Woods zogen weltwirtschaftliche Veränderungen nach sich, die weit über den Austausch von Devisen und die Regeln des Welthandels hinausreichten (vgl. Meireis 2008: 5ff.). Auch in den reichen Industrienationen wurde das Normalarbeitsverhältnis fraglich. Wegen der steigenden Produktivität ging die Anzahl industrieller Arbeitsplätze zurück; der Anteil der Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich wuchs. Die stärkere Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit erhöhte die Nachfrage nach Arbeitsplätzen. Die Konkurrenz auf dem weltweiten Arbeitsmarkt führte zur Verlagerung von Produktionen in Billiglohnländer und löste einen starken Druck auf das Lohnniveau in wohlhabenden Ländern aus. Der Umfang der Teilzeiterwerbsarbeit nahm ebenso zu wie der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse und die Beschäftigung von Leiharbeitern. Die Digitalisierung von Arbeitsabläufen ermöglichte Telearbeit und damit eine neue Verbindung von Wohnen und Arbeiten. Das scheint für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf förderlich zu sein, führt jedoch häufig, vor allem für Frauen, zu Problemen bei der Abgrenzung zwischen beruflichen Pflichten und familiären Aufgaben.
Die Vorstellung, dass ein Normalarbeitsverhältnis für jeden Arbeitssuchenden erreichbar sei, gehört der Vergangenheit an. Phasen der Arbeitslosigkeit sind in vielen Erwerbsbiographien enthalten; je schlechter die Ausbildungsvoraussetzungen sind und je höher das Alter ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit lang andauernder Arbeitslosigkeit; sie bewirkt für die Betroffenen die Abhängigkeit von Sozialhilfesätzen, für die in Deutschland der Name «Hartz IV» steht.
Im Anschluss an eine Aussage von Hannah Arendt wurde diese Entwicklung auf die Formel gebracht, der Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus (Arendt 1998: 13). Diese Formel führt jedoch in die Irre. Das Leben der meisten Menschen im arbeitsfähigen Alter bleibt durch Erwerbsarbeit bestimmt. Doch die elementaren Lebensgewissheiten, mit denen das Modell industrieller Arbeitsteilung verbunden war, zerbröseln. Biographische Ungewissheit wirkt sich auf viele Lebensentscheidungenaus; oftmals verzögert oder verhindert sie, dass junge Menschen eine Familie gründen und Kinder bekommen.
Erwerbsarbeit ist nicht alles
Der Wandel der Arbeitsgesellschaft ist dramatisch, doch lässt sich daraus nicht schließen, dass die Arbeitsgesellschaft an ihr Ende kommt. Nicht nur die Formen der Erwerbsarbeit werden vielgestaltiger, sondern neben der Erwerbsarbeit finden andere, gleichberechtigte Formen der Arbeit verstärkte Aufmerksamkeit. Der vertraute, vom Vorrang der Erwerbsarbeit geprägte Arbeitsbegriff wird überprüft.
Seit Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist das zeitliche
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