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Etwas Endet, Etwas Beginnt

Etwas Endet, Etwas Beginnt

Titel: Etwas Endet, Etwas Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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war verkrampft, von zwei tiefen Furchen verunstaltet, die der Schmerz zu beiden Seiten des Mundes gegraben hatte.
    »Er ist kaum bei Bewusstsein«, sagte sie. »Er redet wirr   …«
    Branwen zeigte zum Fenster. »Das Schiff   …«
    »Zu weit, Branwen. Es ist kaum ums Vorgebirge gebogen. Zu weit   …«
    Branwen blickte Tristan an und seufzte. Ich wusste, woran sie dachte.
    Nein. Ich wusste es nicht.
    Ich hatte es gehört.
    Ob ihr es glaubt oder nicht, ich hörte ihre Gedanken. Branwens Gedanken, unruhig und voll Furcht, aufgewühlt wie die Gischt an den Uferfelsen. Die Gedanken Iseults, weich, bebend, aufgeregt und wild wie ein mit der Hand umklammerter Vogel. Die Gedanken Tristans, zusammenhanglos, zerfasert wie ein Nebelstreif.
    Alle, dachte Iseult, alle sind wir bei dir, Tristan   … Branwen von Cornwall, die die Herrin der Algen ist. Morholt von Ulster, der die
Entscheidung
ist. Und ich, die dich liebt, Tristan, dich mehr liebt mit jeder Minute, die vergeht und dich mir langsam fortnimmt. Mich dir fortnimmt, welche Farbe das Segel des Schiffes auch haben mag, das zu den Ufern der Bretagne gefahren kommt. Tristan   …
    Iseult, dachte Tristan, Iseult. Warum schauen sie nicht zum Fenster hinaus? Warum schauen sie mich an? Warum sagen sie mir nicht, welche Farbe das Segel hat? Denn ich muss es doch erfahren, ich muss, und sofort, denn sonst   …
    Er wird einschlafen, dachte Branwen. Einschlafen und nicht mehr erwachen. Er ist schon an dem Ort, von dem es gleich weit ist zur leuchtenden Oberfläche wie zu den grünen Algen, die am Grunde wachsen. An dem Ort, wo man nicht mehr kämpft. Und dann ist da nur noch die Ruhe.
    Tristan, dachte Iseult, jetzt weiß ich, dass ich mit dir glücklich war. Trotz allem. Obwohl du die ganze Zeit, da du bei mir warst, an eine andere gedacht hast. Obwohl du mich so selten bei meinem Namen genannt hast. Für gewöhnlich hast du »Herrin« zu mir gesagt. Du hast dich so sehr bemüht, mich nicht zu verletzen. So sehr hast du dich bemüht, dich so angestrengt, dass du mich gerade mit dieser Mühe und dieser Anstrengung am meisten verletzthast. Und trotzdem war ich glücklich. Du hast mir Glück gegeben. Du hast mir goldene Funken gegeben, die unter den Lidern aufblitzen. Tristan   …
    Branwen schaute zum Fenster hinaus. Zu dem Schiff, das ums Vorgebirge bog. Schneller, dachte sie. Schneller, Caherdin. Schärfer an den Wind. Egal, unter welchem Segel, schärfer an den Wind, Caherdin. Komme an, Caherdin, bringe Hilfe. Rette uns, Caherdin   …
    Doch der Wind, der seit drei Tagen wehte, Kälte und Nieselregen brachte, flaute ab. Die Sonne kam durch.
    Sie alle, dachte Tristan. Sie. Iseult Weißhand. Branwen. Morholt   … Und jetzt ich   … Iseult, meine Iseult   … Welche Segel hat dieses Schiff   … Von welcher Farbe   …
    Wir sind wie Grashalme, die am Saum des Mantels kleben bleiben, wenn man über eine Wiese geht, dachte Iseult. Wir sind Grashalme an deinem Mantel, Tristan. Gleich wirst du den Mantel abklopfen, und wir werden frei sein   … und der Wind wird uns forttragen. Fordere nicht, dass ich nach jenen Segeln schaue, Tristan, mein Gemahl. Bitte fordere es nicht.
    Schade, dachte Tristan, schade, dass ich dich nicht früher kennengelernt habe. Warum hat mich das Schicksal ausgerechnet nach Irland geworfen? Von Liones war es nach Armorika näher   … Ich hätte dich früher kennenlernen können   … Schade, dass ich dich nicht lieben konnte   … Schade   … Was für Segel hat dieses Schiff? Schade   … Gern wäre ich imstande, dir Liebe zu erweisen, Herrin. Meine gute Iseult Weißhand   … Aber ich kann nicht   … Ich kann nicht   …
    Branwen wandte das Gesicht dem Gobelin zu, Weinen ließ ihre Schultern beben. Also hatte sie es auch gehört.
    Ich umarmte sie. Bei allen Tritonen Lirs, ich verfluchte meine bärenhafte Ungeschicklichkeit, meine knorrigenHände und die aufgerissenen Fingerkuppen, die sich in der Seide verfingen wie Angelhaken. Aber Branwen, die mir in die Arme fiel, erfüllte alles, berichtigte die Fehler, glättete die Kanten   – wie eine Welle, wenn sie den von Hufen zerwühlten Sand am Ufer glatt wäscht. Plötzlich waren wir eins. Plötzlich wusste ich, dass ich sie nicht verlieren durfte. Um keinen Preis. Um nichts auf der Welt.
    Über ihrem Kopf, der an meine Brust geschmiegt war, sah ich das Fenster. Das Meer. Und das Schiff.
    Du kannst mir Liebe erweisen, Tristan, dachte Iseult. Ehe ich dich verliere, erweise sie mir.

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