Eulen
ruhig. Er bewegte sich nicht. Die Bärin betrachtete ihn gründlich. Ihr Ausdruck veränderte sich, und Roy schloss daraus, dass er ihr zu mickrig schien, um eine Bedrohung darzustellen. Nach ein paar Minuten der Anspannung ließ sie sich wieder auf alle viere fallen, und mit einem letzten trotzigen Schnauben machte sie sich davon, um nach ihren Kindern zu suchen.
Trotzdem bewegte Roy nicht einen Muskel.
Er wusste nicht, wie weit sich die Bären entfernt hatten oder ob sie vielleicht zurückkommen würden, um ihn anzugreifen. Zwei Stunden und zweiundzwanzig Minuten lang stand Roy bewegungslos wie eine Marmorstatue an diesem Berghang, bis einer seiner Lehrer ihn schließlich fand und sicher zu seiner Gruppe zurückbrachte.
Roy war also extrem gut darin, stocksteif dazustehen, vor allem, wenn er Angst hatte. Jetzt, mit neun Giftschlangen, die um seine Füße herumkrochen, hatte er große Angst.
»Tief einatmen!«, riet ihm die Stimme hinter ihm.
»Ich versuch’s«, sagte Roy.
»Okay, ich zähl bis drei, dann gehst du ganz langsam rückwärts.«
»Lieber nicht«, sagte Roy.
»Eins …«
»Warte mal ’ne Sekunde!«
»Zwei …«
»Bitte!«, bettelte Roy.
»Drei.«
»Ich kann nicht!«
»Drei«, wiederholte die Stimme.
Roys Beine fühlten sich wie Gummi an, während er sich rückwärts tastete. Eine Hand packte ihn am Hemd und riss ihn mit einem Ruck in das Dickicht aus Pfeffersträuchern. Roy landete auf dem Po im Dreck, im nächsten Moment fiel eine Kapuze über seinen Kopf und die Arme wurden ihm auf den Rücken gezerrt. Bevor er etwas tun konnte, war schon ein Seil zweimal um seine Handgelenke geschlungen und an einem Baumstamm befestigt. Roy fühlte die glatte, klebrige Rinde, wenn er mit den Fingern wackelte.
»Was ist hier eigentlich los?«, wollte er wissen.
»Das solltest du mir vielleicht sagen.« Die Stimme kam jetzt von vorn. »Wer bist du? Und was machst du hier?«
»Ich heiße Roy Eberhardt. Ich hab dich vor ein paar Tagen am Schulbus vorbeirennen sehen.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«
»Genau genommen an zwei Tagen«, sagte Roy. »Ich hab gesehen, wie du gerannt bist, und da bin ich neugierig geworden. Du sahst irgendwie … ich weiß nicht … irgendwie total aufgedreht aus.«
»Das war ich nicht.«
»Doch, das warst du.«
Der Schlangenfänger sprach mit verstellter, rauer Stimme – der Stimme eines Jungen, der wie ein Erwachsener zu sprechen versucht.
»Ehrlich«, sagte Roy, »ich bin nicht hergekommen, um dich zu nerven. Nimm mir die Kapuze ab, damit wir uns sehen können, ja?«
Er hörte den anderen Jungen atmen. »Du musst hier weg. Und zwar sofort.«
»Aber was ist mit den Schlangen?«, wollte Roy wissen.
»Die gehören mir.«
»Ja, schon, aber –«
»Die gehen nie weit. Später fang ich sie wieder ein.«
»Das meinte ich nicht«, sagte Roy.
Der Junge lachte. »Keine Sorge, ich bring dich hinten rum zurück. Tu einfach, was ich dir sage, dann wirst du auch nicht gebissen.«
»Respekt«, murmelte Roy.
Der Junge band Roy von dem brasilianischen Pfefferstrauch los und stellte ihn auf die Füße. »Ich muss zugeben, du hast dich ganz gut gehalten«, sagte der Junge. »Die meisten hätten sich in die Hose gemacht.«
»Sind das Wassermokassins?«, fragte Roy.
»Genau.« Der Junge schien ganz angetan davon, dass Roy sich offensichtlich auskannte.
»Da, wo ich früher gelebt hab, gab’s viele Klapperschlangen«, erzählte Roy. Wenn er den anderen in eine freundliche Unterhaltung verwickeln könnte, dachte er, dann würde der es sich vielleicht anders überlegen und ihm die Kapuze vom Kopf nehmen. »Ich hab aber noch nie von Wassermokassins mit glitzernden Schwanzspitzen gehört.«
»Sie gehen heute Abend auf ’ne Party. Und jetzt zieh Leine.« Der Junge packte Roy von hinten und führte ihn. Er hatte einen festen Griff. »Ich sag dir Bescheid, wenn du den Kopf einziehen musst.«
Die Kapuze war entweder schwarz oder dunkelblau, denn Roy sah nicht das kleinste bisschen Licht durch den schweren Stoff. Blind stolperte er durch das Dickicht, aber der barfüßige Junge passte auf, dass er nicht hinfiel. Als die Luft wärmer wurde und der Boden unter seinen Füßen wieder eben, wusste Roy, dass sie aus dem Wald heraus waren. Es roch nach dem gedüngten Rasen des Golfplatzes.
Bald darauf blieben sie stehen, und der Junge machte sich daran, die Knoten an Roys Handgelenken zu lösen. »Dreh dich jetzt nicht um«, sagte er.
»Wie heißt du?«, fragte Roy.
»Ich
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