Eulen
dem verschlossenen Tor. Officer Delinko hatte den Garagenmeister gebeten, die Schlüssel hinter dem Deckel des Benzintanks zu verstecken; stattdessen steckten sie im Zündschloss, gut sichtbar für jeden, der vorbeispazierte. Der Garagenmeister konnte sich wohl nicht vorstellen, dass irgendjemand so verrückt sein könnte, einen Streifenwagen zu klauen.
Officer Delinko startete den Wagen und machte sich auf den Weg nach Hause. Er drehte eine kleine Runde um das Grundstück des Pfannkuchenrestaurants, aber da war keine Menschenseele zu sehen. Das überraschte ihn auch nicht – Verbrecher mochten schlechtes Wetter genauso wenig wie gesetzestreue Bürger.
Auch wenn er nicht im Dienst war, ließ Officer Delinko den Polizeifunk stets eingeschaltet. Das war eine der strikten Regeln für diejenigen mit der Erlaubnis, ihren Dienstwagen mit nach Hause zu nehmen. Haltet immer die Ohren offen, falls mal ein Kollege Hilfe braucht.
Heute Abend berichtete der Einsatzleiter von kleineren Auffahrunfällen sowie von einem vermissten Jungen, der mit dem Fahrrad im Gewitter unterwegs war. Roy Sowieso. Den Nachnamen konnte der Polizist nicht verstehen, weil gerade in dem Moment der Empfang gestört war.
Die Eltern sind sicher schon völlig verzweifelt, dachte Officer Delinko, aber bestimmt taucht der Junge heil wieder auf. Vermutlich hängt er in einem von den Einkaufszentren rum und wartet darauf, dass das Gewitter aufhört.
Officer Delinko ging der vermisste Junge noch immer durch den Kopf, als er zehn Minuten später an der Kreuzung West Oriole Avenue und Highway eine schlanke, klatschnasse Gestalt stehen sah. Es war ein Junge und die Beschreibung des Einsatzleiters passte genau: knapp einssechzig groß, dreiundvierzig Kilo schwer, mittelbraunes Haar.
Officer Delinko lenkte seinen Wagen an den Straßenrand. Er ließ das Seitenfenster hinunter und rief über die Kreuzung hinweg: »He, junger Mann!«
Der Junge winkte und tat einen Schritt nach vorn. Er schob ein Fahrrad; der Hinterreifen war anscheinend platt.
»Heißt du Roy?«
»Ja.«
»Soll ich dich vielleicht mitnehmen?«
Der Junge kam über die Straße mit seinem Rad, das problemlos in den geräumigen Kofferraum des Crown Victoria passte. Officer Delinko teilte dem Einsatzleiter über Funk mit, dass er den vermissten Jungen gefunden habe und alles in Ordnung sei.
»Roy, deine Eltern werden heilfroh sein, dich wiederzusehen«, sagte der Polizist.
Der Junge lächelte nervös. »Ich hoffe bloß, Sie haben Recht.«
Im Stillen gratulierte Officer Delinko sich selbst. Kein schlechtes Schichtende für jemanden, der zum Schreibtischdienst verdonnert war. Vielleicht würde ihm das ja dazu verhelfen, dass sein Chef ihn wieder in Gnaden aufnahm.
Roy war noch nie in einem Polizeiwagen gefahren. Er saß auf dem Beifahrersitz neben dem jungen Polizisten, der die Unterhaltung fast allein besorgte. Roy bemühte sich, höflich zu sein und immer wieder mal etwas zu sagen, aber seine Gedanken drehten sich nur um den rennenden Jungen und das was Beatrice Leep über ihn erzählt hatte.
»Mein Stiefbruder, genau genommen«, hatte sie gesagt.
»Wie heißt er?«
»Seinen Namen hat er abgelegt.«
»Und wieso nennen sie ihn Fischfinger? Ist er Indianer?« Zu Hause in Bozeman hatte Roy einen Mitschüler gehabt, dessen Nachname Drei Krähen bedeutete: Charlie Three Crows hieß er.
Beatrice Leep hatte gelacht. »Nein, der ist kein Indianer! Ich hab ihn Fischfinger getauft, weil er Meeräschen mit der bloßen Hand fangen kann. Hast du ’ne Ahnung, wie schwer das ist?«
Meeräschen waren schlüpfrige Köderfische, die sehr hoch springen konnten und in Schulen von hunderten unterwegs waren. Im Frühling war die Bucht bei Coconut Cove voll von ihnen. Üblicherweise wurden sie mit Netzen gefangen.
»Wieso wohnt er nicht zu Hause?«, hatte Roy Beatrice gefragt.
»Das ist erstens ’ne lange Geschichte und zweitens geht sie dich nichts an.«
»Und was ist mit der Schule?«
»Sie haben ihn zu einer ›Spezialschule‹ geschickt. Zwei Tage hat er’s da ausgehalten, dann ist er abgehauen. Den ganzen Weg ist er zurückgetrampt, von Mobile, Alabama.«
»Und deine Eltern?«
»Die wissen nicht, dass er hier ist, und ich werd’s ihnen ganz bestimmt nicht sagen. Keiner sagt ihnen was. Kapiert?«
Roy hatte es feierlich versprochen.
Nachdem sie sich vom Schrottplatz geschlichen hatten, gab Beatrice Roy einen Erdnussbutterkeks, den er gierig verschlang. Unter den Umständen schien es ihm der
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