Eulen
aber manchmal ist die Grenzlinie zwischen Mut und Dummheit sehr fein.«
Roy vermutete, dass ein Kampf gegen Dana Matherson in die zweite Kategorie fiel.
Die Aussicht, von Dana zu Mus gehauen zu werden, gefiel ihm gar nicht, aber was ihn noch mehr beunruhigte, war die Auswirkung, die so etwas auf seine Mutter haben würde. Er vergaß nie, dass er ein Einzelkind war, und er wusste, dass seine Mutter es nicht ertragen könnte, wenn ihm etwas zustieße.
Roy hätte beinahe eine kleine Schwester gehabt, aber das sollte er eigentlich gar nicht wissen. Fünf Monate war seine Mutter mit dem Baby schwanger gewesen, als sie eines Nachts plötzlich furchtbar krank wurde und mit dem Krankenwagen in die Klinik musste. Als sie nach einigen Tagen wieder heimkam, war das Baby nicht mehr da, aber niemand erklärte ihm richtig, wieso nicht. Roy war damals erst vier Jahre alt, und seine Eltern waren so verstört gewesen, dass er sich nicht getraut hatte, Fragen zu stellen. Erst Jahre später hatte ein älterer Cousin ihm erklärt, was eine Fehlgeburt ist, und ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass Roys Mutter auf die Weise ein kleines Mädchen verloren hatte.
Seit damals hatte er sich immer bemüht, seinen Eltern nicht unnötige Sorgen zu machen. Egal, ob er ritt, Rad fuhr oder auf dem Snowboard stand, immer verzichtete er auf die gewagten, wilden Kunststücke, die Jungen seines Alters normalerweise gern machen – nicht, weil er selbst Angst hatte, sondern weil er sich als Einzelkind dazu verpflichtet fühlte.
Und trotzdem hatte er heute Morgen im Bus diesen Brutalo mit dem Erbsenhirn beleidigt, der sowieso schon stinksauer auf ihn war. Manchmal verstand Roy selbst nicht, was ihn überkam. Manchmal besaß er mehr Stolz, als gut für ihn war.
In der letzten Stunde hatte er Amerikanische Geschichte. Nach dem Läuten wartete Roy, bis die anderen Schüler gegangen waren, dann spähte er vorsichtig den Gang hinunter. Keine Spur von Dana Matherson.
»Roy, stimmt was nicht?«
Mr. Ryan, der Geschichtslehrer, stand hinter ihm.
»Nein, alles in Ordnung«, sagte Roy leichthin und trat auf den Gang hinaus, während Mr. Ryan die Tür hinter ihnen schloss.
»Gehen Sie jetzt auch nach Hause?«, fragte Roy.
»Schön wär’s. Aber ich muss noch Arbeiten korrigieren.«
Roy kannte Mr. Ryan nicht sehr gut, aber er ging neben ihm her, bis sie am Lehrerzimmer angekommen waren. Er redete über dies und das und gab sich ganz lässig, während er immer wieder unauffällig nach hinten schaute, um zu sehen, ob Dana irgendwo lauerte.
Mr. Ryan hatte zu seinen Collegezeiten in der Footballmannschaft gespielt und war seitdem kein bisschen kleiner geworden, deshalb fühlte Roy sich ziemlich sicher neben ihm. Es war fast so gut, als würde er neben seinem Dad herlaufen.
»Fährst du nicht mit dem Bus nach Hause?«, fragte Mr. Ryan.
»Doch, klar«, antwortete Roy.
»Aber ist die Haltestelle denn nicht auf der anderen Seite?«
»Ich will mich nur noch ein bisschen bewegen.«
Als sie am Lehrerzimmer ankamen, sagte Mr. Ryan: »Und vergiss nicht den Test am Montag.«
»Stimmt. Der Krieg von 1812«, sagte Roy. »Ich hab schon dafür gelernt.«
»Ach ja? Und wer hat die Schlacht am Eriesee gewonnen?«
»Kommodore Perry.«
»Welcher von beiden? Matthew oder Oliver?«
Roy musste raten. »Matthew?«
Mr. Ryan zwinkerte ihm zu. »Ein bisschen könntest du noch lernen«, sagte er. »Aber trotzdem ein schönes Wochenende.«
Dann stand Roy allein im Gang. Es war schon erstaunlich, wie schnell Schulen sich nach dem letzten Läuten leerten, gerade so, als hätte jemand bei einem gigantischen Whirlpool den Stöpsel herausgezogen. Roy horchte angestrengt nach Schritten, schleichenden Schritten, hörte aber nur das Ticken der Uhr über der Tür zum Bioraum.
Ihm wurde klar, dass er noch genau vier Minuten bis zur Abfahrt des Busses hatte. Er machte sich aber keine Sorgen, denn er hatte sich schon eine Abkürzung durch die Turnhalle zurechtgelegt. Er hatte geplant, als Allerletzter in den Bus zu steigen. So konnte er sich auf einen der leeren Plätze ganz vorn setzen und blitzschnell an seiner Haltestelle hinausspringen. Dana und seine Kumpel belegten normalerweise die letzten Reihen und belästigten selten jemanden, der nahe beim Fahrer saß.
Abgesehen davon würde Mr. Kesey sowieso nie was merken, dachte Roy.
Er rannte bis ans Ende des Gangs, bog rechts um die Ecke und steuerte auf die Doppeltüren der Turnhalle zu. Fast hätte er
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