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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
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Zeitschriften auf dem Couchtisch, den Kopf nach hinten auf die Kissen gelegt. Ich weiß nicht, ob seine Augen geschlossen oder offen sind. Von hier unten sehe ich vor allem die Füße der beiden, perspektivisch übergroß, merkwürdig bedeutsam. Meine Mutter trägt Hausschuhe, Sandalen mit vielen dünnen Spangen. Mein Vater ist heute nur strumpfsocken, seine Füße klappen auseinander, bilden von den Fersen bis zu den affenartig gelenkigen Zehen ein V. Die Bündchen hängen schlaff unterhalb der Knöchel, und ich meine, dass sogar Staub an der Sohle klebt. Er lässt sich gehen, denke ich vorwurfsvoll. Sonst ist immer meine Mutter die Legere, die Häusliche, die Gemütliche. Sie ist Mama, während er nur mein Vater sein kann. Aber nicht heute. Sie haben die Rollen getauscht. Wo soll das bloß hinführen?
    Ist das überhaupt noch meine Mutter, diese Frau, die so kühl und zielstrebig ist, wie ich das sonst nur bei Männern im Bus gesehen habe, bei Geschäftsmännern? Wenn sie nicht mehr meine Mama sein will, kann sie dann einfach so aufhören? Wer wird dann meine Mama?
    »Zum Beispiel hier: Rose Karwatzki. Oder lieber Ulla Karpfer? «
    Meine Mutter ist bei den letzten ihrer ausgedruckten Blätter angelangt. Sie studiert die Liste von Tagesmüttern. Sieht nach, bei welcher von ihnen noch ein Platz frei ist.
    »Die hat schon drei eigene Kinder.«
    Wo sie wohnen.
    »Hm, das dauert morgens zu lange. Wenn dann noch Stau ist …«
    Was sie über sich schreiben.
    »Hör dir das an: Sie liebt Hunde, Katzen und auch ihr Kind. Ich schicke die Anita doch nicht in ein Tierheim!«

    Und dann, was sie verlangen.
    »Unverschämt. Das lohnt sich nicht. Das verdiene ich ja selbst.«
    Mein Vater schaltet sich ein, obwohl er immer noch eine Aura von Nonchalance, von Was-meinst-du-mit- unser -Kind versprüht. Er ist der Meinung, letztendlich sollte diejenige entscheiden, die die ganze Sache am meisten betreffe: ich. Leicht säuerlich legt sich meine Mutter ihre Blätter in den Schoß, beugt sich vor und sagt zu mir: »Annilein, kannst du mal für eine Sekunde den Krach lassen und herkommen?« Das Engellied hat sich inzwischen in einen Lalalarefrain aufgelöst, und der Drahtkörper sticht mir in die klebrig-warmen Kinderhände. Ich stehe auf und lasse Tannennadeln aus meinen Kleiderfalten rieseln. Meine Mutter zieht ihre Beine an, damit ich mich zwischen die zwei Erwachsenen setzen kann, ohne über die Schnallensandalen zu stolpern. Ich nehme lieber den Umweg und klettere über die Sofalehne auf meinen Vater. Seine – sicherlich nur gespielte – Gleichgültigkeit bedeutet für mich, dass er mich nicht an eine fremde Frau abschieben will. Er rührt sich nicht, als ich auf ihm liege. Das heißt, dass er mich liebt. Von hier aus sehe ich, dass es stimmt, was ich schon geahnt habe: Seine Augen sind zu. Ich robbe ein Stück weiter und liege mit meinen Beinen auf dem Bauch meines Vaters, der wollig warm, aber nicht wirklich weich ist. Mit aufgestützten Armen stecke ich meine Nase in die Liste von Namen. Tagesmütter. Als ob die jemals meine Mütter sein könnten.
    Den ganzen Herbst lang habe ich mit Hilfe eines Memoryspiels aus kinderfreundlichem Holz das Alphabet geübt. Nur die Großbuchstaben.
    Daher kann ich einige der Namen hier entziffern. Meine Mutter muss mir das nicht vorlesen. Ich kann das alleine.

    »Ich will zu der.«
    Sabine Nicolas.
    Es war eine spontane Entscheidung. Weil ein Nico in unserem Haus wohnte, mit dem ich mich manchmal im Hof zum Spielen traf. Weil es fast so klang wie Nikolaus. Und weil ich den Namen so schnell erkennen konnte.
    Das konnte ich auch noch, als ich ihn an dem »großen Probetag«, irgendwann im Januar, nicht mehr mit Tinte gedruckt, sondern auf einem rechteckigen goldenen Klingelschild sah, die einzelnen Buchstaben wie Hieroglyphen eingemeißelt und schwarz eingefärbt. Ich wäre gerne mit einer Fingerspitze darübergefahren. Aber meine Mutter hatte schon geklingelt, mich an der behandschuhten Hand gefasst und in das Treppenhaus gezogen, nachdem die Tür summend aufzustemmen gewesen war. Frau Nicolas stand schon an der Wohnungstür, als ich den Treppenabsatz erreichte. Genauer gesagt, stand sie nicht an der Tür, sondern bildete selbst eine Trennwand zwischen Treppe und Wohnung. Eine riesige Masse an Frau in einer altrosa Twinsetkombination füllte den ganzen Türrahmen aus. Man hätte meinen können, diese rosa Wand sei die eigentliche Tür, der Diamantring, den sie uns freudig entgegenwedelte, der

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