Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Türknauf und die Süßwasserperlenkette das Vorlegeschloss. Aber nein, das war meine neue Mama. Meine Tagesmama.
»Sabine, bitte, bitte, nicht Frau Nicolas, ich bin doch noch nicht so alt!«
Ich war etwas enttäuscht. Mir war eingeschärft worden, Ältere immer korrekt mit Herr, Frau und Sie anzusprechen. Mein Vater legte Wert auf solche Dinge. Sabine lehnte sie ab wie Beleidigungen. Sie scheuchte meine Mutter und mich in die Wohnung und schloss die echte Tür hinter uns. Sobald
ich im Flur stand, wusste ich, warum Sabine aus der Wohnung gequollen war wie Hefeteig aus einer Schüssel, bedeckt von einem Tuch, das langsam weiter nach oben gedrückt wird. Die ganze Wohnung war bis in den letzten Winkel so vollgestopft mit Dekorationsgegenständen, dass jeder Mensch, der es betrat, zurückgedrängt wurde und, wenn er nicht hinauskatapultiert werden wollte, sich mit aller Kraft durch die zähe, warme Luft kämpfen musste. Sämtliche Heizungen bliesen auf Volldampf diese Luftpuddingmasse in die Zimmer und erzeugten mitten im Januar ein Klima wie auf einer tropischen Insel. Sofort begann mir der Schweiß aus den Haaren in den Kragen meines Schneeanzugs zu laufen, der sich plötzlich wie straff gewickelte Frischhaltefolie anfühlte. Aber noch durfte ich mich nicht ausziehen. Die zwei Erwachsenen redeten und bemerkten nicht, dass ich mich nicht traute, meine schmutzigen Schneestiefel auf den bunt geblümten Läufer zu setzen. Während meine Mutter die Wohnung inspizierte, sich »nur ganz kurz umsehen« wollte, war ich an meinen Platz direkt vor der Eingangstür verbannt, konnte mich in den aufgebauschten Daunenklamotten nicht bewegen, konnte nur meinen Kopf ganz leicht und langsam drehen und den Gang auf und ab schauen. Er war ganz in Vanillelicht getaucht, da vor den beiden Fenstern, die ich von meinem Platz aus sehen konnte, Gazegardinen zitterten und die seitlichen Schlitze noch zusätzlich mit dicken, schweren Vorhängen mit Karos und Blumenmustern verhängt waren, damit ja keine Kälte und keine Außenwelt auf diese Insel vordringen konnten. Von der Diele aus führten mehrere Türen in verschiedene Zimmer, die meisten waren verschlossen. Mir stand wirklich kein Fluchtweg offen. Außerdem konnte ich nicht nach einem versteckten Gang suchen, weil mich von sämtlichen Fußschemelchen, Garderobenleisten,
Simsen, Vorsprüngen und Haken Glasaugen verfolgten. Frau Nicolas, nein: Sabine, sammelte Puppen. Nicht solche, wie sie zu Hause auf meinem Bett saßen, liebevoll an- und ausgezogen und frisiert, deshalb lädiert und zerzaust – Kreaturen, die eine eigene Geschichte hatten –, sondern stumme Porzellanwesen, die unglaublich stupide und blasiert auf mich Kind herabsahen. Sie waren perfekte Versionen von mir. So sieht ein gutes Mädchen aus. So. So. So. Und so. Nicht wie ich.
Ganz allein stand ich da. Meine Mutter hatte ihren Rundgang beendet. Als sie um die Ecke bog, hörte ich, worüber sie sich mit Sabine unterhielt: über sich selbst. Ich war schon im Stich gelassen, obwohl meine Mutter noch da war. Frau Nicolas, nein: Sabine!, hatte mehr als nur Verständnis für die Situation meiner Mutter, dachte, es wäre »vorbildhaft«, wie sie Kind und Karriere kombinieren, jonglieren könne. Aber sie könnte ihr eine »Last« abnehmen: Um das Kind brauche sich niemand zu sorgen. Für den Morgen sei ein Spielprogramm geplant, zum Mittagessen gebe es Kartoffelsalat, natürlich selbst gemacht. Und schließlich ist meine Mutter heute noch ständig erreichbar, wir tun ja nur so, als ob sie schon arbeiten würde. In Wirklichkeit ist sie zu Hause. Wo ich nicht sein darf.
Ich werde doch brav sein, fragte mich meine Mutter und hielt mich an den Daunenarmen. Ich versprach es. Meine Mutter nickte, verabschiedete sich von Sabine und ging.
Meine Mutter war fort.
Zuerst wunderte ich mich, als Sabine mich ins Wohnzimmer führte und mir die Regeln erklärte.
»Mit diesem Knopf stellst du den Fernseher leiser oder lauter, mit dem wechselst du das Programm.«
Sollte ich am Vormittag nicht spielen?
»Bevor du den drückst, rufst du mich, okay? Ich stelle dir jetzt den Kinderkanal an, den magst du doch, oder? Wenn etwas ist, ruf mich. Und bitte fass die Puppen nicht an. Wir wollen doch nicht, dass die schönen, zerbrechlichen, teuren Puppen kaputtgehen, hm?«
Damit verschwand das rosa Twinset in ein anderes Zimmer. Ich hörte, wie sie die Tür hinter sich zuzog. Die Tür des Wohnzimmers hatte sie offen gelassen. Das Sofa, auf das ich
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