Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
vor, versuche, das Gleichgewicht zu halten. Plötzlich Schmerz. Ein Diamant, Eis, nein, Glas bohrt sich in die linke Fußaußenseite. Ohne nachzudenken ziehe ich den verletzten Fuß an, merke ausgerechnet jetzt, dass der
Restalkohol meinen Körper instabil werden lässt, und stürze mit dem Gesicht voran auf den glitzernden Boden zu.
Wer könnte mich jetzt schon retten? Zuerst trifft mein Wangenknochen auf, wie durch ein Wunder – habe ich das so gewollt? – bleibt der erwartete Stich einer Scherbe aus. Dumpf pulsiert der Aufprall über die Wirbelsäule durch den ganzen Körper. Meine nackten Arme klatschen neben meinen Augen nieder, eins, zwei, als ob ich einen Bauchplatscher im Schwimmbad gemacht hätte, nur so aus Jux. Die Beckenknochen werden weniger in den Fußboden als in meine Eingeweide gerammt, ein ruckartiger Druck auf Magen, Nieren und Lunge, der ein heiseres Keuchen aus warmer Luft zur Folge hat. Die Schenkel fallen als Letzte. Links und …
Die Scherbe!
Mein Fleisch hebelt sie aus dem Boden, sie ritzt eine gerade Linie in die Innenseite des Oberschenkels und bleibt dann flach liegen.
Ich will nicht denken.
Die Wodkatropfen haben sich zu einer Lache gesammelt und drängen nun in den feinen Riss in meiner Haut. Durch wirre Haarsträhnen sehe ich einen roten Strich auf meinem Bein. Ich spanne den Muskel an, um mich aufrichten zu können, und da bildet sich ein Tropfen an einem Ende des Strichs. Blut. Ich setze mich hin, das linke Bein angezogen, das verletzte ausgestreckt, ignoriere die mikroskopischen Glaskörnchen, die sich überall in Gruben und Dellen in der Haut schmiegen. Mit einem Finger tippe ich den Blutstropfen an, der daraufhin beginnt, sich in einer roten Bahn den Weg über die Rundung meines Beins zum Boden zu bahnen. Ich male ein Fragezeichen.
Ein Fragezeichen für: Ist das Blut? und: Was ist passiert?
Für: Was mache ich hier?
Für: Wer bin ich?
Für: Wo bist du, Papa?
Für: Wo ist meine Familie hin?
Die Wunde brennt, wenn ich sie berühre. Ich habe jetzt einen Krater in mir. Eine Schlucht. Ich bin nicht mehr perfekt. Aber das bin ich schon lange nicht mehr.
Mehr Blut quillt hervor. Ich will es sehen, will alles sehen. Es ist gar nicht blau? Es ist rot, zu hell, zu künstlich und wird zu schnell braun in den Bahnen, die die Tropfen auf ihrer Fahrt hinterlassen. Ich trinke das Blut. Sauge es aus meinem Schenkel. Angle nach einer neuen Flasche, ich habe ja noch genug, und jetzt kann auch niemand mehr sagen, ich würde mich wie ein Penner benehmen. Welcher Penner trinkt schon Wodka Absolut mit Blut? Also hoch die Flasche und saugen und trinken und saufen und saugen und gurgeln. Und bloß nicht denken. Wodka rein und über das Blut raus und wieder rein. Ich will mehr, mehr, mehr. Mehr!
6
LINIEN UND FORMEN
Rot und Schwarz.
Einfache Gedanken denken.
Schwarz und Rot.
Langsamer werden.
Zwei Farben. Überall im Zimmer.
Sie tanzen als Schatten über meine Augen. Es muss Blut sein, das in meinem Gehirn nicht mehr genug Platz hat und durch die Augäpfel herausquellen will.
Nicht an so etwas denken.
Nicht das Bein anschauen. Die Wunde nicht sehen, die schwarze Kruste und die nicht abgewaschenen Bahnen, ein erdiges Braun. Und doch war es mal Blut.
Rot.
Ich bin so ins Bett gegangen. Konnte mich nicht waschen.
Mir wäre schwindlig geworden unter der Dusche, ich wäre umgefallen, ich weiß es.
Schwarz.
Der Abend ist schnell vorbeigegangen. Dann kam die Nacht. Dann ist die Nacht gegangen. Dann kam der Morgen. Dann ist der Morgen gegangen. Dann kam der Tag. Und der ist geblieben.
Ich habe auf das Scherbenmeer geblickt und kein Land gefunden,
auf das ich mich hätte retten können. Ich trieb auf meinem Bett wie auf einem Rettungsboot.
Allein. Immer so allein.
Warum kann ich sie nicht halten, die, die ich liebe? Mein Vater, Jonas, meine Männer. Warum gehen sie so schnell fort, gehen unter, versinken?
Weil ich sie enttäusche.
Weil ich sie nicht genug lieben kann.
Warum kann ich niemanden lieben?
Nicht denken. Waschen. Blut dreht sich im Uhrzeigersinn den Abfluss hinunter.
Anziehen. Schwarz, Rot. Was sonst? Es gibt nichts anderes mehr. Keine Farben. Keine Wahl. Keine Probleme mehr. Alles ganz einfach.
Einfach rausgehen. Ich kann das.
ICH WILL NICHT
Will nicht. Will nicht, will, will, kann nicht.
Weine ich schon wieder? Das muss aufhören.
Ich habe es geschafft. Lobt mich!
Ich stolpere durch die Straßen. Sehe glückliche Menschen.
Glückliche Menschen Nummer
Weitere Kostenlose Bücher