Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
eins:
Junge und Mädchen. Ungefähr siebzehn. Sie vielleicht jünger. Vor Dönerstand. Neben Blumenrabatte.
Warum sind sie nicht in der Schule? Es ist Wochenende. Gestern war Freitag. Heute ist Samstag. Morgen ist Sonntag. Sie haben schulfrei. Sie lachen. Er: schwarzer Humor. Sie: wird rot. Er: steckt Kopf in ihren Ausschnitt. Sie: lacht. Er: leckt ihre Brüste. Sie: lacht. Er: beißt in ihre linke Brust. Sie: lacht. Sie: blutet. Ein bisschen. Er: entschuldigt sich. Sie: lacht. Zu hoch. Ist aber sehr glücklich. Er auch. Er: leckt sich Hautfetzen
von Unterlippe. Ich kann sie nicht ansprechen. Würde sie gerne fragen, wie man lieben kann. Ob er schon einmal fremdgegangen ist. Ob sie ihn noch genauso liebt wie am ersten Tag. Aber so etwas fragt man nicht.
Glückliche Menschen Nummer zwei:
Hinter ihnen sitzt ein appetitlich dicker Mann. Auf einem Barhocker. Der dem Dönerstand gehört. Der Akim gehört. Deshalb heißt der Dönerstand Akim’s. Der Barhocker ist aus silbrigem Aluminium, eine Stange auf einem flachen Kreis, weiter oben noch ein Kreis an Querstreben, auf den man seine Füße stellen könnte. Der Mann tut es nicht. Er hat sich bequem zurückgelehnt, so dass sein mächtiger Bauch gerade die Tischplatte berührt. Über dem Bauch wirft sein Kinn Falten. Seine Wangen haben die Farbe von Erdbeertörtchen, die auf Kindergeburtstagen serviert werden, ein cremiger Ton, geschmeidig, ohne ölig zu sein, die Haut eines Babys, streichelweiche Zeitlosigkeit. Auch seine Augen sind ganz jung. Bevor sie sich genießerisch schließen, kann ich den Blauton eines Frühlingsmorgens erkennen. Dann wölbt er seine Lippen über den in Papier eingeschlagenen Döner, verweilt dort und scheint Fleisch, Soße, Salat, die ganze Füllung in sich hineinzuziehen. Ein Kauen ist nicht zu erkennen, nur das Beißen, und sobald er einmal seinen Mund von dem Essen gelöst hat, Essen in seine Speiseröhre hat gleiten lassen, geht es wieder von vorn los, er beugt sich etwas vor, so dass der Tisch leicht kippt, hebt die erstaunlich zierlichen Hände an den Mund und: beißt. Er ist ein schöner Mann. Ich würde ihn gerne fragen, was Leidenschaft ist, er muss es doch wissen. Ich bewundere ihn. Bis er rülpst. Die Kunstfertigkeit des Essens ist vorbei. Jetzt will ich ihn nicht mehr ansprechen.
Glückliche Menschen Nummer drei:
Frau mit Kind. Läuft an Akim’s vorbei. Beachtet weder Beiß-Lach-Paar noch Beiß-Rülps-Mann. Beachtet nur eigenes Kind. Läuft schnell. Muss mich beeilen, um mit ihr mitzuhalten. Kinderwagenräder rollen fast geräuschlos. Kind fast geräuschlos. Frau redet.
Mein Zuckerschneckenbrätling. Mein Wutzelmännchengefährte. Mein Sternenstaubfänger. Mein einziger Einsamkeitsnachtwächter. Mein kleinziger Beisammenheitsnächter.
Sie liebt das Kind, ihr Kind, ihr Geliebter, ihre Liebe. Ist verloren in ihm. Vergisst alles andere. Nur es zählt. Ich darf sie nicht stören.
Glückliche Menschen Nummer vier:
Wieder Junge und Mädchen. Aber andere. Wären beinahe von Kinderwagen überrollt worden. Gehen langsamer. Genießen den Tag. Lachen viel. Nicht so hoch wie gebissenes Mädchen. Wärmer.
Stopp. Wach mal für einen Moment aus deinem Trip auf, Anita. Denk die Gedanken zu Ende.
Das Lachen kennst du doch. Das Mädchen kennst du doch. Folge ihr in die Fußgängerzone.
Kennen wir uns aus einem Traum? Aus einem anderen Leben? Innerlich reihe ich alle Klassenkameradinnen aus meiner Vorsommerzeit auf. Kann tatsächlich wieder klarer denken. Ich bin wieder hier!
Sie ist nicht darunter. Eine von Jonas’ Freundinnen? Auch nicht. Halt! Warte!
Bevor sie im Strom der Leute untergeht, fällt mir auf, wie schmal ihre Hüften in den Jeans sind. Sie muss recht jung sein. Eine dumpfe Erinnerung steigt in mir auf, das Bild meiner
Hand auf ihrer Taille im Geflacker von Discostrahlern. Ich habe mit ihr getanzt im Suff, im Vollsuff. Sie stammt also aus der Partyzeit, meiner Absturzzeit. Das liegt noch gar nicht so lang zurück. War es gestern? Oder heute Morgen? Sie muss es wissen. Wo ist sie hin?
Die unbekannte Bekannte hat ein perlendes Lachen. Ein Champagnerblasenlachen. Wieder das Déjà-vu-Gefühl. Die kenn ich doch.
Champagner? Oder doch Tequila? Salz in der Höhle einer Hand. Haare, die aus einem schwarzen Haarband hervorquellen und in Erbrochenes zu fallen drohen.
»Tobias, wo ist Tobias?«
Die Süße.
Hier?
Ich hole auf. Ihr Arm hängt in dem eines Jungen. Nein, eines jungen Mannes.
»Ist das Tobias?« Ich habe es
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