Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
mich kennenlernt. Hat er betrunken gesagt. Will ich das? Nein. Ich will nicht, ich will einfach nicht. Ich will schön sein. Begehrt werden. Aber von allen. Ich will, dass ihr eure Hände faltet und eure Köpfe senkt. Betet! Bittet mich doch um Gnade!
Warum sieht mich niemand an?
Altmännerkneipe, darum. Lauter alte Typen, die Melanie hinterhersabbern. Mir ist schlecht. Ich fühle mich echt nicht so besonders. Ich glaube, ich will jetzt aufstehen und weg. Erst mal Hände waschen. Er war so nah, so widerwärtig nah. Ich wollte das doch nicht. Hier ist es zu verraucht, zu viel Bier auf den Tischen um mich herum, zu wenig Sekt, zu wenig Kohlensäure in den Drinks, zu viele alte Männer, zu viele Männer, die vielleicht Väter sind und Töchter haben, zu Hause, oder Frauen, ganze Familien, vielleicht sogar Söhne, es muss auch Väter geben, die Söhne haben, die zu Männern werden, und ich will weg von ihnen, weg von euch, einfach
nur weg, aber ich darf nicht, will nicht, weil das meine Nacht sein soll, eine von vielen, aber sie alle gehören mir, ihr müsst sie mir doch als Opfer darbringen. Bringt sie doch um, die Nacht. Ich geh mir jetzt die Hände waschen.
Breche auch auf wie der Ire vor mir. Meine eigene Odyssee. Lasse die leeren Zombiegläser stehen, ihr Inhalt in mir, mir ist schlecht. Schwanke. Stehe. Wo ist die Toilette? Schwanke weiter. Dränge mich an Leibern vorbei. Alte Männer. Mit Dunkelbier in Maßkrügen. Mit karierten Hemden. Australier, Iren, Engländer, Amerikaner, ich glaube, dass sie alle eine Sprache sprechen, die ich jetzt nicht mehr verstehe. Der Ire steht vor mir. Sagt etwas. Mir ist schlecht. Ich sage »Hä?« und taumele weiter, weil sich eine Gruppe Drag Queens zwischen uns drängt, mich weiterschiebt in einer Conga-Line. »Bachelor Party«, sagen sie. »Komm mit an unseren Tisch, lern den Eddie doch mal kennen, Kleine, mach ihm ’ne Freude.« Sagen sie. Aber sie sind zu alt. Zu nah. Verkleidet. Mit ausgestopften Brüsten in engen Glitzerkleidern. Manche tragen rosa Perücken zum Schnurrbart. Mannweiber. Mit roten Händen und Hornhaut auf den Fingerkuppen. Mit riesigen Waden. Zu viel Haut. »Wo ist die Toilette?«, frage ich und will nicht mehr. Eine Frau, ein Mann mit pinkfarbenem Plastikhaar und Strapsen löst mich aus der Tanzgruppe, »Eddie, komm, lass mal«, stößt mich leicht in eine bestimmte Richtung, nicht ohne mir einen Klaps auf den Hintern zu geben. Ich muss weiter. Lasse mich tragen von den Wogen der Körper, auch wenn mir die Luft ausgeht. Ich höre das Rauschen in meinen Ohren und kann keine Stimmen ausmachen, auch meine ist weit weg, durch den Schaum eines Ozeans gedämpft. Brande gegen Tische, wenn die Masse mich wegstößt. Entschuldige mich, murmele immer wieder
»Entschuldigung, Entschuldigung«, dass ihr mich so sehen müsst, ich weiß nicht, was mit mir los ist, ihr hättet das nie mitkriegen sollen, das nicht, ich bin so dicht und denke doch immer weiter, Tunnelblick, und wenn am Ende ein Licht auftaucht, dann ist das ein Zug, dann spring ich, aber die Leute, denen ich in die Augen schaue, verstehen das nicht. Ich sehe nur noch Schuhe, keine Augen mehr, keine Menschen, mir ist schlecht.
Ich verschütte einen Drink, einen Martini auf Eis. Ich spüre, wie er meine nackten Beine hinunterläuft. Nass. Kalt. Ich bin wach. Ich kann wieder aufschauen.
Mein Vater. Ich habe dich vermisst, Papa.
Warum bist du gegangen?
Ich will dir so viel sagen. Ich will dir so viel sagen.
Du trägst immer noch deinen Anzug. Du hast deinen Krawattenknoten nicht gelockert. Du bist hier in diese Kneipe gegangen, ich weiß nicht, warum. Fühlst du dich hier wohl? Ich mich auch nicht. Ich will hier raus.
Ich war hier mit einem Mann, Papa.
Ich bin schuld, Papa.
Ich wollte dir nie wehtun, Papa.
Ich wäre gerne deine perfekte Tochter geblieben. Ich wäre gerne auf deinen Schoß gekrochen. Ich hätte gerne deine Hand in meinem Nacken gefühlt. Ich hätte dir gerne erzählt, was ich heute gemalt habe. Ich hätte dir gerne eine Zeichnung
aus der Schule gezeigt. Eine Note. Eine Bemerkung meiner Lateinlehrerin. Dass ich gut bin. Brav bin. Perfekt bin. Eine Bereicherung in ihrem Unterricht.
Ich gehe seit Monaten nicht mehr zur Schule. Ich habe versagt.
Ich bin nicht einmal schön.
Sag doch Anni zu mir. Sag doch: Hallo, Annie. Sag, dass es dir wehgetan hat. Dass du wütend warst. Wegen mir. Weil ich ein verlottertes, verludertes Etwas bin, weil ich gesoffen habe, weil ich gestunken habe und
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