Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
dass man mich gar nicht mit meiner Stiefschwester, diesem perfekten Mädchen, vergleichen kann. Wie gut, dass ich hier bin, wo mich mein Vater eigentlich gar nicht finden kann. Als ob er mich suchen würde.
Ich gehe jetzt.
»Ich gehe jetzt«, schreie ich Melanie ins Hirn. Sie ist zwischen zwei Männern eingeklemmt, nicht mehr die, mit denen wir gekommen sind, die sind vielleicht inzwischen beleidigt in ihr Schuhfirmastädtchen abgezogen, wahrscheinlich hat Mel ihre Nummern oder E-Mail-Adressen. Der Ire hat mir seine nicht aufgedrängt. Wie lange war ich in der Frauentoilette vor dem Spiegel, um mein überklares, alkoholgerötetes Ich genau, ganz genau anzusehen? Wie lange habe ich einen Fremden angestarrt, weil ich in ihm jemanden sehen wollte? Wie lange war ich hier?
»Wir sind doch eben erst gekommen!«, schreit Melanie zurück und will mich zu ihren Kerlen ziehen. »Du, mir langt
es für heute, ich glaube, ich krieg eine Grippe.« Das glaube ich wirklich.
»Ach, komm schon, Anita, noch eine Runde Shots!«
»Nein, nein, echt nicht.«
»O. k., o. k., dann sehen wir uns morgen, oder?«
»Musst du nicht was mit deinen Eltern machen?«
»Nee, Anita, nicht morgen, da hab ich keinen Bock drauf. Außerdem werde ich so einen Hangover haben …«, sie lacht einem der Männer ins Gesicht, er grinst dämlich, »da ist es besser, wenn sie mich nicht sehen.«
»Dann bis morgen, Süße.«
»Ja, bis morgen!«
Ich umarme sie zum Abschied, sie muss sich seitlich aus ihrer Zwangslage befreien, um mir die Arme um den Hals zu legen und mich auf beide Wangen zu küssen. Glitschige Tequilaschneckenküsse. Soll ich ihr noch viel Spaß wünschen? Hat sie Spaß? Ich weiß, dass sie ihn haben wird, normalerweise würde ich an ihrer Seite bleiben, ich einen Typen, sie einen, und ab geht die Party, und die Party geht ab.
Aber heute gehe ich nach Hause, scheine gegen den Strom zu schwimmen, alle rennen auf die Tanzfläche, nur ich nicht, ich sehe noch, wie Melanie ihre Arme hochreißt und zum Rhythmus des Beats die Finger spreizt wie Sonnenstrahlen und Funkenregen im Schummerlicht der irisch-australischen Bar. Viel Spaß, Melanie, morgen wieder, heute musst du solo singen, morgen wieder Duett, ich verspreche es.
Ich laufe durch die Nacht und bin erschreckend klar. Es ist ziemlich kalt, ich hätte keinen Rock anziehen sollen. Die Dunkelheit streicht um meine Beine und lässt meine Knie neblig werden. Ich frage ein Mädchen an der Bushaltestelle, ob sie eine Zigarette für mich hat. Sie gibt mir eine, und der Bus kommt. Ich steige nicht ein. Ich kann auch noch
ein Stückchen laufen. Ich rauche und hülle mich in meine Welt. Erst als ich vor meinem Haus ankomme, merke ich, dass ich den ganzen Weg zu Fuß gegangen bin. Es ist dunkel. Der Morgen ist noch nicht gekommen. Noch fahren die Nachtbusse. Es ist erstaunlich ruhig um diese Zeit, wenn man nicht in einem Club ist. Ich dachte, die Stille käme mit dem Morgen. Aber jetzt ist sie schon früher hier. Bevor ich die Haustür öffnen kann, muss ich meine Hände aneinanderreiben. Mein Kopf ist ganz klar, ich finde den Schlüssel sofort und schleiche mich in die Wohnung und in mein Zimmer. Dort setze ich mich ans Fenster. Nichts. Nur schwarz. Nur ich.
Er war nicht da. Er ist fort. Ich bin möglicherweise schuld daran. Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich muss jemandem davon erzählen. Meiner Mutter? Nein, bestimmt nicht, die darf nicht auch noch enttäuscht von mir sein, die soll glauben, dass ich nachts schlafe und tags in der Schule bin. Jonas? Er ist weggegangen wie mein Vater. Hat mir Vorwürfe gemacht. War ein besserer Mensch als ich. Er hat sich nicht umgedreht. Obwohl ich dachte, dass er mich geliebt hat, irgendwann. Melanie? Ja, ich glaube, ich muss es Melanie erzählen. Sie wird es verstehen. Sie ist doch wie ich. Sie ist ich in diesem Moment in der Bar, für euch da draußen. Sie ist eure Partygöttin. Ich werde Melanie von meinem Vater erzählen. Morgen? Morgen. Morgen werde ich ihr sagen, warum ich heute so war, wie ich war. Dass er da war. Dass der Ire mich angefasst hat. Dass ich nicht mehr konnte. Dass ich nicht mehr kann. Dass ich eine Statue geworden bin. Sie wird es verstehen.
9
DAME VOR SCHWARZEM HINTERGRUND
Ihr Lidstrich ist perfekt. Das Lipgloss lässt ihre Lippen rosa glühen. Von den Absätzen ihrer Stiefel bis zu der letzten festgesprühten Haarsträhne ist sie die Herrscherin dieser Straße, der Menschenschlange, durch die ich sie sehe, und der Dämmerung, in
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