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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
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fällt mir ein, wie jung sie ist, so viel jünger als ich –, waren ihre Eltern beide oft weg. Abendessen. Oder nur müde. Manchmal hat ihre Mutter den Vater von der Arbeit abgeholt, und sie sind gemeinsam weggegangen.
    »Dein Vater muss sich entspannen können«, war die Begründung, die sie Melanie serviert hat.
    »Ich war denen doch nur egal oder im Weg, und falls sie überhaupt noch Schuldgefühle hatten, haben sie die erstickt mit ihren Zahlungen. Freiraum, haben die immer gesagt. Wir geben dir den Freiraum, den eine Jugendliche braucht.« Melanie zieht ihre Mundwinkel nach unten und drückt den Rücken durch, um mir und der ganzen Schlange zu zeigen, wie ihre Eltern das gesagt haben, wie dumm die sind, wie spießig und widerwärtig. Und dann hatten sie Tobias aktiviert. Der studierende Bruder sollte sich um seine Schwester kümmern. Und war nicht gerade begeistert. Nahm Melanie mit, wohin er ging. Wenn ihr das nicht gefiel, war es ihr Problem. Aber ihr gefiel es. »Und dann habe ich dich getroffen oder du mich. Wir haben uns gefunden, Liebling.«
    Beinahe erwarte ich Applaus, als Melanie mir um den Hals fällt und »meine Freundin« murmelt, laut genug, um den
krönenden Abschluss zu liefern. Was soll ich jetzt noch sagen? Die Show ist zu Ende.
    »Meine beste Freundin«, antworte ich in die zufriedene Stille Melanies. »Ja, Eltern sind beschissen.«
    »Hast du Probleme mit deinen?«, fragt Melanie gelangweilt und schaut die Straße hinab zum Eingang des Angel’s. Wir sind nur noch wenige Meter entfernt und werden nicht mehr lange hier draußen warten müssen, bevor wir in den Lärm und die Hitze des Clubs eingelassen werden, in dem man sich unmöglich wird unterhalten können, vor allem, nachdem wir uns unseren gewohnten Alkoholpegel ertrunken haben.
    »Ja schon, eigentlich habe ich nur meine Mutter, aber die ist eine verdammte Zicke«, versuche ich so teilnahmslos wie Melanie zu sagen. Jetzt wendet sie sich mir zu. »Echt? Was ist denn mit deinen Vater?«
    »Der ist weg«, sage ich und weiß, dass ich damit noch einmal die Menge zum Lauschen gebracht habe.
    »Wie, weg? Einfach abgehauen?« Ich nicke nur. »Hast du nochmal von ihm gehört?«
    Soll ich ihr von gestern erzählen? Davon, dass ich dachte, ich hätte ihn gesehen, dass ich ihn gerne gefragt hätte, warum er gegangen ist? Dass ich mir immer noch nicht sicher bin, ob er es war? Dass ich zugegebenermaßen ziemlich betrunken war? Es klingt zu albern. Mein Leben klingt viel zu albern neben ihrem; außerdem gibt es zu viel Unausgesprochenes. Zu viele Details. Zu viel Umgebung. Zu wenig Geld. Zu wenig ich.
    Das hier ist meine Chance, Melanie zu übertrumpfen. Was ich brauche, ist ein Drama. Ein Anruf vor einiger Zeit. Mein Vater? Ein Anwalt. Mein Vater ist verunglückt. Er will mich sprechen. Nein, besser: Er ist tot. Die Polizei braucht mich,
um die Leiche zu identifizieren. Ich renne in die Leichenhalle. Eine Dame in einem weißen Kittel und Mundschutz bittet mich in einen Raum, der von kalten Neonröhren erleuchtet ist. Ich setze mich auf den einzigen Stuhl, das Plastik fühlt sich an wie Haut. Ich höre das Quietschen von kleinen Gummireifen. Die Dame im Kittel rollt eine Liege herein, auf der sich unter einer weißen Decke das Profil meines Vaters abzeichnet. Ich will es nicht wahrhaben. Sie zieht die Decke von dem Leichnam herunter, und ich breche zusammen. Er ist es. Mein Vater, grau, steif, die Augen für immer geschlossen. Sie haben ihn zu spät gefunden, um ihm den Mund ebenfalls zu schließen. Er steht offen, zu einer letzten Entschuldigung, einem einzigen »Ich liebe dich, Anita, mein Kind« bereit.
    Aber das kann ich nicht erzählen. Mein Vater lebt, er ist irgendwo da draußen. Er ist lebendig, ganz widerlich lebendig.
    Deshalb sage ich nur: »Nein, ich habe nichts mehr von ihm gehört«, und alle fangen an zu sprechen, fahren in ihren Unterhaltungen da fort, wo sie aufgehört haben.
    Ich habe es Melanie nicht gesagt. Ich fühle mich elend und will nach Hause. Aber nein, ich muss das durchstehen. Ich will nicht wieder früher zurückgehen. Ich will nicht früh genug aufwachen, um die ungespülten Gläser meiner Mutter zu finden. Ich will weiter Göttin sein. Wir warten schweigend die letzten Minuten und bemerken erst jetzt die Kälte. Der Türsteher lässt uns passieren, als wir ihm sagen, wir hätten unsere Ausweise vergessen, aber er würde uns ja kennen. Melanie zwinkert ihm im Hineingehen zu und meint: »Sie sind ein echter

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