Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Engel.«
Erst im Club fällt mir auf, dass Melanies Geschichte eine Lüge sein könnte. Visa-Karte? Unternehmensberater? Vielleicht
doch nicht mehr als ein modernes Märchen. Ich schaue ihr genau in die Augen und sehe unter ihrem Kleinmädchenblick etwas schimmern, das der Glanz einer Göttin werden könnte. Sie hakt sich bei mir ein, führt mich zur Bar und bestellt uns zwei Martinis. Dann zwinkert sie, und die Tusche der oberen Wimpern bleibt unter ihren Augen hängen, wo sie langsam schmelzen und die Wangen hinabfließen wird.
Ihr fehlt eben doch noch der letzte Schliff. Sie ist nicht so unerreichbar wie ich. Was weiß sie schon? Ihr Vater war mit ihrer Mutter weg. Nicht mit seinem Mantel, seiner Tasche, auf immer. Sie sagt, dass sie es hasst, wenn er versucht, sich mit ihr zu unterhalten, falls er denn mal da ist. Ich will endlich in den Club und nichts mehr hören müssen. Und gleichzeitig will ich, dass sie mir alles erzählt. Ich werde ihr nichts sagen. Ich will sie trösten. Ich will ihr die Eltern ersetzen. Ich will, dass sie sich an mich wendet, mir vertraut, zu mir aufblickt. An dem Abend, an dem sie mich kennengelernt hat, war sie zum ersten Mal mit Tobias weg. Ihren Eltern war das nur recht. Studierender Sohn kümmert sich um seine verwaiste Schwester. Rührend. Ich frage mich, ob Melanie glaubt, was sie da sagt. Ob sie weiß, wie lächerlich es ist, dass sie ihre Eltern verbal anspuckt, obwohl die sich doch um sie kümmern. Ich bin mir sicher, dass sie sich heute Sorgen um sie machen. Ich bin mir sicher, dass ihre Eltern in einer von der Haushälterin geputzten Küche sitzen und sich über ihre Tochter unterhalten.
Warum wird Melanie von allen geliebt? Wie hat sie das verdient? Ich blende Melanies Gekeife aus. So unglücklich ist sie doch gar nicht. Sie gefällt sich in dieser Rolle. Sie denkt, sie kommt an mich ran. Aber ich bin unantastbar. Ich bin ganz allein hier oben auf meinem Sockel.
10
DIE LETZTE PARTY
Ich wache auf. Zum ersten Mal in meinem Leben ist mein erster Gedanke tatsächlich der, der einem angeblich in solchen Situationen immer durch die Gehirnwindungen schießt: Wo bin ich? Die Dusche, die ich scheinbar zur Bettstatt auserkoren hatte, erinnert mich zwar vage an die, die ich sonst jeden Morgen erst auf eisigen Nordpolarmeerregen, dann auf dampfiges Tahitimoor stelle, aber außer dass beide Duschen Marke minimalistisches Fertigprodukt vom Heimwerkerladen im Industriegürtel sind, haben sie nicht viel Ähnlichkeit miteinander. Diese hier ist so groß, so leer, so weit.
Ich richte mich auf. Die kleinen weißen Rundkacheln des Bodens meiner Duschkammer entfernen sich, ich bin groß, nicht die Dusche, ich bin riesig, die ganze Welt ist während meines Schlafs geschrumpft, eine neue Welt wurde geboren, eine weiße, strahlende Welt, und ich mit langen Gliedmaßen darin.
Es ist alles zu viel. Ich übergebe meinen Mageninhalt der frischen Luft. In einem einzigen Strahl kotze ich in die Dusche. Danach drehe ich das Wasser auf, kalt, stechend kalt. Milchkaffeefarbener Likör von gestern fließt von den stählernen Armaturen gen Abfluss. Ich ekle mich davor. Und vor mir selbst.
Mein Kopf dröhnt, der Nebel will sich nicht heben, er füllt den Raum zwischen angekalkten Duschwänden und Schiebetüren, Sicherheit vortäuschend, so leicht einzudrücken mit den Händen, so leicht hindurchzusehen mit lüsternen Blicken. Ich hatte von dem Wasser erwartet, dass es mich freisprechen würde von jeder Sünde, Tropfen für Tropfen, aber es will mich nicht reinigen. Es wäscht mich nur. Es hilft mir nicht.
Ich hebe meine langen Beine aus der Dusche. Immer noch ist alles so ungewohnt, so disproportioniert, so neu, doch meine Neugierde fehlt, ich denke nicht — nicht mehr oder noch nicht —, es regieren der Nebel und eine gewisse Angst. Neben der verglasten Zelle, der ich gerade entstiegen bin, reihen sich ähnliche Kabinen, ummauert jedoch und ohne Hahn, Schlauch oder auch nur der Ahnung von Wasser. Stattdessen erwecken sie in mir die Furcht vor öffentlichen Toiletten, Schulklos, dem gemeinsamen Pinkelngehen mit den besten Freundinnen – auf dem Porzellanrand sitzen und nicht können, weil alle zuhören, sich unterhalten, lachen, und man muss und kann nicht, schämt sich, möchte nur allein sein, weg, die anderen sollen weg, doch die Pause will nicht enden, und die anderen schreiben vor den Plastiktüren ihre Hausaufgaben ab, weil hierher kein Lehrer kommt. Und ich sitze im Urindampf und lese die
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