Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
meiner Mutter in die Arme rennen, habe deshalb doch noch einen Umweg gemacht, einmal um den Block herum. An einer Bäckerei vorbei. An einem noch nicht geöffneten Kleidungsladen. Und es wurde immer kälter, und ich konnte nicht in die Fenster schauen, weil ich mich nicht sehen wollte. Das wird ja zur Besessenheit. Aber bald werde ich einmal nachschauen. Müssen. Vielleicht hat der Test gelogen und mein Gefühl und mein Körper, der keine Periode haben will, vielleicht …
Nein, wen will ich denn hier eigentlich betrügen? Ich bin schwanger. Und muss jetzt irgendwie damit fertigwerden. Und es meiner Mutter sagen.
Der Schaum in der Tasse ist cremig braun und wird langsam zu einem luftigen Ball in der Mitte zusammengewirbelt. Mit einem kleinen Löffel hebe ich diesen Ball aus der Flüssigkeit und schiebe ihn mir zwischen die Lippen. Das ist Heimat. Ich lecke mir kleine Kakaobläschen von der Oberlippe und gehe, die Tasse mit beiden erfrorenen Händen umklammernd, ins Wohnzimmer. Sonst bin ich nie hier. Es hat sich verändert. Keine Zeitschriften mehr auf dem Couchtisch, sondern nur ein leeres Glas. Braune Ränder und am Boden ein runder Fleck, doppelt gebrochen von der Glaswand. Rotwein. Nicht meiner. Meine Mutter trinkt abends manchmal ein bisschen. Hat sie früher auch nicht. Aber die
Zeiten ändern sich. Ich stelle meine Tasse neben das Glas. Lege mich auf das Sofa, den Kopf auf ein Kissen, und ziehe die Beine wieder an, will die Nähe zu ihr wagen. Zu ihr. Meinem namenlosen Baby. Das Wohnzimmer steht auf der Kante, wenn man so liegt. Die Türen verlaufen waagerecht, so dass keiner hereinkommen kann, und wenn doch, so müsste er auf die Bilder, die am Boden hängen, aufpassen. Oder er wäre direkt hinuntergestürzt, wäre durch die Tür in das Zimmer und über das glatte Parkett gleich wieder zum gegenüberliegenden Fenster hinausgeschlittert. Aber ich bin hier und bin sicher. Obwohl ich später doch noch einmal hinauswill. Weihnachten kommt näher, und heute bin ich in dieser Stimmung, dieser Lebkuchen-Lametta-Rundum-Stimmung, in der man durch die geschmückten Straßen auf einen Weihnachtsmarkt gehen kann, um dort Glühwein zu trinken und kleine Geschenke zu finden, ohne von der allgegenwärtigen Süße kotzen zu müssen. Weihnachtsmarkt: Das klingt gut. Aber noch ein bisschen. Noch den Kakao und noch einen Keks aus der Dose in der untersten Schublade des Schreibtischs meiner Mutter.
Es ist schön, so langsam. So im Jetzt. Geradezu perfekt. Als ob das noch eine Rolle spielen würde. Ich muss nicht mehr perfekt sein. Muss gar nichts mehr, will nur noch.
Ich döse gerade vor mich hin, warm im Bauch und schwül im Kopf, die Ohren glühen und surren, der Raum steht schräg, als mein Handy piept. Neue Nachricht. Von Melanie. Die Süße, von wem denn sonst? Das passt in das Wohligkeitsgefühl, dass mich meine beste Freundin anschreibt und mich zu einem Weihnachtsvorfeierchen einlädt. Sie hätte sich bereits um alles gekümmert, schreibt sie, zwinkernder Smiley, und ich zwinkere zurück. Nehme die Einladung an. Am Morgen des Vierundzwanzigsten, den Ort wird sie mir kurz vorher
mitteilen. Sie kichert bestimmt, als sie das schreibt. So selbstständig, so erwachsen fühlt sie sich. Es sei ihr gegönnt. Ist doch lieb. Warum war ich auch so böse zu ihr, habe sie angelogen, oder besser gesagt: anlügen lassen? Es ist passiert. Jetzt muss ich wirklich Geschenke kaufen. Für Melanie und meine Mutter. Meine Mädels. Und meine Kleine natürlich. Babyklamotten habe ich schon immer gerne angeschaut. So süß und goldig. Ich freue mich darauf! Muss mich noch etwas wärmer anziehen, eine weitere Lage und einen Schal und den Mantel und einen letzten Keks in den Mund, und ich bin draußen in der Vorweihnachtszeit, auf diesem anderen Planeten.
Hier ist der Boden mit grauen Pflastersteinen bedeckt, in einzelnen Tauwasserkratern schwimmen kreiselnd neben den üblichen Zigarettenstummeln, denen ich meine hinzufüge – rauchen wird man doch noch dürfen, so dann und wann, nicht mehr lange, sowieso –, ein goldener Faden, eine Strähne Engelshaar oder eine Tannennadel. Die Luft könnte burgunderfarben oder tiefbraun sein, so riecht sie, nicht klar, sondern eingedickt mit Zucker und Schokolade. Schon kurz vor der Haustür, die mal wieder laut ins Schloss fällt, obwohl ich sie offen lassen soll, damit der Postbote reinkommt und unsere Obermieterin mit ihren immer zu schweren Einkäufen, habe ich mich gegen die Luftwand stemmen
Weitere Kostenlose Bücher