Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
den Ferientagen angewöhnt haben, mit dem gemeinsamen Frühstück und so. Ich gehe morgens aus dem Haus, auch wenn ich dem Schülerstrom vor der Haustür nur eine Zeit lang folge, dann ausbreche unter den verwirrten Blicken meiner Altersgenossen, diesen ahnungslosen Wesen, die mich aus ihren mit banalen Problemchen vernebelten Welten nicht mehr wahrnehmen, sobald ich mich ein paar Meter von ihnen entfernt habe. Während ich mit ihnen im Gleichschritt marschiere – man kann sie ja nicht überholen oder sich zurückfallen lassen, weil sie immer in Reihen
gehen, in schiebenden, drängelnden Reihen —, bemerken sie mich. Vielleicht rieche ich inzwischen anders, vielleicht fehlen mir inzwischen der Schulschweiß und der pubertäre Hormonmix, vielleicht rieche ich aber auch schon schwanger. Jedenfalls schauen sie mich an. Durchbohren mich mit ihren Blicken. Das alte Schulklo-Gefühl vom Beobachtet-, Belauscht-, Bedrängtwerden stellt sich wieder ein. Nicht daran denken. Wenn ich an Schultoiletten denke, wird mir seit neuestem schlecht. Ich halte das Gefühl, dieses Gefühl, dass ich durchschaubar bin, nicht aus. Und schere aus. Laufe fort. Da glotzen sie erst recht. Und vergessen mich dann. Ich laufe über die Straße, habe es nicht einmal bis zu der nächsten Ampel geschafft, es wurde mir schon zu eng inmitten der pubertierenden Leiber. Endlich wieder Luft. Atmen.
Die Nächte sind immer noch warm oder wieder, ich habe nämlich die Winterdaunendecke herausgeholt, es ist ja schließlich schon Dezember. Aber die Morgen draußen sind frisch. Kalt. Bald wird man den Atem in Wattewölkchen vor den Lippen sehen können.
Aber noch nicht. Noch frieren nur die Oberschenkel an der Innenseite der Jeans fest, jedes Härchen scheint von Raureif überzogen, in der Luft schwebt Feuchtigkeit, die sich in allen Gliedern festsetzt und nur durch heißen Kakao oder kräftige Bewegung vertrieben werden kann. Ich könnte den Kakao jetzt sofort hinunterstürzen, nach der Übelkeit der letzten Wochen bin ich jetzt von Hunger geplagt, gierigem Hunger, der sich nicht darum kümmert, wo ich bin und woher ich etwas zu essen bekommen könnte. Aber erst die Bewegung. Dann hat meine Mutter die Wohnung verlassen, sie unwissentlich mir überlassen. Sie darf sogar denken, dass ich in die Schule gegangen bin. Ich ermögliche es ihr, lasse eine benutzte Tasse auf dem Küchentisch stehen,
schreibe »Drück mir heute die Daumen: Deutschschulaufgabe! °~°«, lärme ein wenig mehr als nötig. Warum mache ich das alles? Früher habe ich das doch auch nicht getan. Bin ich weicher geworden in den letzten Wochen? Zärtlicher? Mütterlicher?
Ich weiß es nicht.
Sobald ich von meinem Morgenspaziergang zurück bin, werde ich im großen Garderobenspiegel mein Gesicht und meinen Körper betrachten. Ich wage nicht, mich ganz auszuziehen, ich will weder die Schnittwunde auf meinem Schenkel sehen noch den Bauch, der inzwischen größer geworden ist, geworden sein muss. Das erste wirkliche Beweisstück, dass meine Tochter wirklich da in mir ist. Ich habe mehrere Wollpullover angezogen, damit ich mir sagen kann: Das kommt nur von den vielen Kleidungsschichten, falls ich in einem Schaufenster an meinem Spiegelbild eine Rundung entdecke, entdecken würde, aber ich schaue ja nicht mehr in Schaufenster. Und doch, wenn ich nachts vor dem Einschlafen meine Beine anziehe und mit den Knien gegen diesen warmen Bauch, von dessen Wachstum ich überzeugt bin – ich muss ihn doch spüren können –, streife, bin ich stolz darauf. Bin verliebt in dieses Etwas, das da wächst und lernt, mit den Zehen zu wackeln. Es ist mein Kind. Mein kleines Mädchen. Es wird ein Mädchen, eine kleine Prinzessin. Eine Estrella. Oder doch Aysa? Ich kann sie doch nicht mehr nur Baby nennen. Sie braucht einen echten Namen, einen, in den sie wachsen kann, der ihr eine große Zukunft ermöglicht. Mit Linda kommt man nicht weit. Wie wäre es mit Maja?
Ich denke über Namen nach, Namen aus Romanen, aus Filmen, Namen alter Freundinnen und Verwandter, englischer
Königinnen und der besten amerikanischen Schauspielerinnen, Namen aller großen Frauen, während ich Zucker in meinen zweiten heißen Kakao heute rühre. Brr, heute war es kalt. Ich habe es nicht sonderlich lange draußen ausgehalten, habe beide Arme um die Jacke geschlungen, nicht um den Bauch natürlich, man könnte ja etwas spüren oder eben, was schlimmer wäre, nichts, und bin nach Hause gelaufen. Dann hatte ich plötzlich Angst, ich könnte
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