Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Autodesigner arbeiten. Du kannst hier leben. Wir können hier glücklich sein. Ich habe angefangen, mir Wohnungen anzuschauen. Falls es dir bei meiner Mutter zu eng wird. Und so ein Kind braucht ja auch Platz. Es sind nicht viele auf dem Markt gerade, aber gestern bin ich an einem schönen Haus mit verschnörkelten Balkons und einem herrlichen apfelgrünen Putz vorbeigegangen und habe in einem der Fenster ein Zu-vermieten-Schild gesehen. Es würde zu uns passen, vertrau mir. Aber ich wollte zuerst mit dir darüber reden. Und wenn du Nein sagst, ist das nicht schlimm. Ich kann für mich selbst sorgen.
Ich habe dich angelogen. Ich bin das ganze bisherige Schuljahr nicht in die Schule gegangen. Ich gehe nie in die Schule. Und auch nie mehr. Da kann ich genauso gut arbeiten. Ich kann genug Geld für mich und das Kind verdienen. Und vielleicht wird mein Vater auch wiederkommen, wenn er davon hört, und wird mir Geld geben oder mich mitnehmen zu sich oder einfach wieder hier bei meiner Mutter wohnen, und alles wird wieder so gut und lustig wie früher. Davon träume ich. Von Familie. Von dem Gefühl, sich einfach fallenlassen zu können, und jemand wird einen auffangen, man wird nicht zu schwer sein, und der Fänger wird einen festen Stand und starke Arme haben. Und warme Haut und süßen Atem. Vertrauten Geruch. Frisch gewaschene Leinenhemden. Und ein Muttermal an genau der Stelle, die man schon als Kind kannte. Du weißt schon: Familie. Du müsstest mich auch nicht lieben, nicht gleich von Anfang an. Das kann ich nicht erwarten und verlange es auch nicht. Ich wäre zufrieden, wenn du mir vertraust zu entscheiden, was das Beste für das Kind ist. Und mich unterstützt.
Und mich aufhältst, wenn ich in die falsche Richtung renne, mir den Ausweg zeigst, wenn ich mich verlaufen habe. Du musst nicht mir helfen, sondern dem Kind. Bitte. Du musst mich auch nicht heiraten. Das ist ja mittelalterlich. Ich weiß auch nicht, warum ich das anspreche. Ich weiß ja nicht einmal, welcher Religion du angehörst. Ob du einer Religion angehörst. Es ist ja egal. Es ist eigentlich alles egal. Ich kann dich zu nichts zwingen. Will es auch nicht. Wenn du kommst, ich dich eines Tages in der Fußgängerzone treffe, dann möchte ich, dass du aus freien Stücken dort bist. Nicht, weil du dich verpflichtet fühlst. Vielleicht will ich einfach, dass du uns liebst, mich und das Kind. Es wird übrigens ein Mädchen. Glaube ich. Wie wollen wir sie nennen?
Ich liebe dich.
Und warte auf deine Antwort.
Deine Tochter und deren Mutter,
Anita
Ich habe die Mail gelöscht. Er muss das nicht wissen. Er soll gut schlafen, wenigstens er.
Wir nicht.
Ich will ihn nicht mehr. Wahrscheinlich gab es nie eine Chance, die Ahnung einer Chance, dass er irgendetwas an meiner Situation hätte ändern können. Was soll er auch ändern? Sie ist nun einmal da. Sie ist hier drin, unter meiner Bauchdecke. Noch immer kann ich es nicht mit dem bloßen Auge sehen, aber schon mit den Fingerspitzen ertasten, eine blinde Zärtlichkeit für diesen Fisch, dieses aus wenigen Zellen bestehende Wesen, das auf einem Plastikstäbchen seine Existenz verkündete, sie hinausschrie zu seiner werdenden Mutter, derselben, die jetzt den Computer ausmacht, endgültig
beschließt, dass dieses Wesen, wenn es denn geboren wird, allein von ihr erzogen wird. Kein Vater auch für sie. Keine Vaterfigur. Nur eine Mutter. Im Zusammenbruch begriffen.
Auf ihrem Bettzeug, unter der Last eines Geschlechts, unter dem Fluch, unter der Aufgabe liege ich. Ich bin sie. Ich bin hier. Auf meinem Bett ganz allein. Ich werde dieses Kind ganz allein aufziehen. Ganz allein lieben. Sie wird nie leiden müssen. Nie enttäuscht werden. Ich schwöre es dir, Nadja!
Meine Tränen sickern in das Leinen. Ganz von mir weg. Ganz in die weite Zukunft, das Unergründliche, das Umnebelte, das Weiße.
15
FALLEN LASSEN
Aber Melanie. Melanie kann ich es sagen. Heute, an Weihnachten. Heute, an Weihnachten, treffe ich sie. Um vier Uhr im Factory 18. Ja, das ist das Nachfolgecafé des Factory 17. Der Besitzer, ein Ausländer, Amerikaner oder Japaner oder Israeli, munkeln die In-Zeitschriften, hat wegen des großen Erfolgs des Seventeen das Eighteen gegründet, um ein neues, jüngeres Publikum anzusprechen. So hat Melanie mir das erklärt. Zuerst hat sie mir nur den Namen unseres Treffpunkts genannt, zusammen mit der Uhrzeit. Und natürlich einem Smiley. Ich war verblüfft. Dachte: Vielleicht hat sie nur die falsche Zahl
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