Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Daunenanorak, in den er sich verkriecht, nachdem er sich kurz vorgebeugt hat, um mich hereinzuwinken. Ich bekomme einen Gutschein für ein Gratisgetränk, etwas zimtig-orangenes, ein Weihnachtsspecial natürlich. Das kann ich mir schon einmal holen, während ich warte. Obwohl: kein Alkohol, hatte ich mir das nicht vorgenommen? Verzichtet Anita auf ein Freigetränk? Ja, ich glaube, sie tut es. Sie tut es? Sie tut es.
Das Dekor unterscheidet sich nicht sonderlich von der Partnerbar, die gleichen Kaffeetöne, vielleicht ein wenig dunkler, die gleichen Glühvasen, vielleicht ein bisschen größer. Nur die Kellner fehlen. Hier geht der Kunde selbst, lässt sich von dem Bartender, der das Aussehen eines BWL-Studenten
hat und so ein Jungmanager-in-Ausbildung-Gehabe, einen süßen Cocktail mixen aus den Tausenden bunten Flaschen vor dem Spiegel, der die gesamte Bar entlang verläuft. Hier bewegt man sich, hier ist man jung und schön und will sich ansehen lassen. Während ich mich auf ein Cappuccinosofa fallen lasse und meinen Mantel zusammen mit der Tüte und meiner Handtasche auf den dazugehörigen eiförmigen Hocker lege – ich muss mich bemühen, damit nicht alles sofort wieder von dem runden Leder rutscht –, füllt sich die Bar, wenigstens andeutungsweise. Ich bin zu früh gekommen. Wie konnte mir das passieren? Der Bartender schaut mich nicht an, winkt mich nicht zu sich, bringt mir nicht unaufgefordert den Weihnachtsdrink. Irgendwas stimmt echt nicht mit mir, früher wäre das doch anders abgelaufen. Aber er wird wohl einer von den Uninteressierten sein, von den Arroganten, vielleicht ist er ja auch schwul?
Wann kommt Melanie endlich? Ich linse auf mein Handy. Sogar schon nach vier. So allmählich könnte sie schon auftauchen.
Wie lange hat die Bar heute eigentlich auf? Darf man am Weihnachtsabend nach Mitternacht noch feiern? Aber ich will nicht so lange bleiben. Ich will Melanie sehen, ihr das Geschenk geben, möglicherweise bekomme ich dann selbst auch eines, ansonsten darf Melanie mir danken und mir helfen, wenn ich heute Abend mit meiner Mutter rede. Und dann kann meine Mutter mir um den Hals fallen, und wir können uns alle gemeinsam auf Nadja freuen.
Da kommt Melanie.
»Hey, Liebling, wie geht es dir?« Für unser Kuss, Kuss muss ich aufstehen, muss mich merkwürdig über den niedrigen
Tisch zu Melanie hinüberbeugen, mein Kinn auf ihrem bestickten Ausschnitt. Eine seltsame Haltung, die mich zwingt, ihr Gesicht von unten zu sehen, mit einer großen Kinnfläche und scheinbar keiner Stirn. Aber ihre Kehle riecht gut, ein schweres Parfüm dringt aus den Poren die Schlagader entlang. Nackte Haut in Duft und Seide. Was bist du so groß, Melanie?
Sie hat ihren Mantel an einen Haken am Eingang gehängt. An einen Haken, den ich nicht kannte, der mir bis jetzt nicht einmal aufgefallen ist. Sie war hier wohl schon öfter.
Sie hat sich nicht zu mir gebeugt, weil sie einen rosa beschaumten Drink in der Hand hält, dessen Erdbeergeruch sich mit dem Parfüm mischt. Um ihn nicht zu verschütten, setzt sie sich sehr gerade auf den zweiten Hocker neben meinem Sofa und stellt ihn dann auf das übergeschlagene rechte Knie. Ich setze mich auch, kann allerdings meine Beine wegen des dämlichen Tischs nicht kreuzen, sondern muss beide Beine nebeneinanderstellen, damit sie nicht einfach auseinanderfallen und die Schenkel auf dem Leder breit aussehen.
Melanie hebt ihr Glas mit beiden Händen und zieht an dem Strohhalm, der in der rosa Wolke steckt. Dann schlägt sie ihre Wimpern auf und sieht mir in die Augen.
»Melanie, die Bar ist genial«, sage ich, und sie antwortet etwas zusammenhanglos: »Ja, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.«
Na ja, so lange war das doch auch nicht, sie übertreibt. Ich lache trotzdem. Sie lacht nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Der Bartender hat seinen Kopf auf eine Hand gestützt und schaut in unsere Richtung. Hallo, Süßer. Ich muss kichern.
Melanie versteht nicht. »Der Kleine an der Bar«, flüstere ich ihr vertraut über den Tisch hinweg zu. Sie dreht sich um, den Strohhalm immer noch an den Lippen. Dreht sich wieder zu mir her. Zieht den Plastikhalm in einer langen, fließenden Bewegung plattgedrückt zwischen ihren Zähnen hervor, ein Tropfen rosa Flüssigkeit bleibt an ihrem Eckzahn hängen, die Giftperle einer Kobra, sie leckt sie mit ihrer kleinen, fleischigen Zunge ab. »Lecker«, sagt sie. Der Drink ist leer. Und wir haben noch kaum geredet. Ich kichere
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