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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
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damals sage. Seltsam. Mir ist so selig seltsam zumute heute, da passt das Gesinge und das schwarze Fenster, das jetzt schon schwarz ist – oder noch? Es ist eben Winter. Da verschwimmt die eine Dunkelheit am Morgen mit der anderen am Abend, bildet eine Einheit, wird zur dunklen, geräuschlosen Zeit an sich. Weihnachten. Wieder ein Weihnachten, war das nicht eben schon mal? Das war vor zwölf Monaten, dieses Eben, tatsächlich. Wie schnell werden dann erst die nächsten fünf vorübergehen. Ich möchte, dass sie langsam sind. Nicht stillstehen, sonst kann ich Nadja nie sehen, aber langsam sollen sie sein, schön gemächlich.
    Ich atme ein, ich atme aus. Ich ziehe mich an. Wieder Lage über Lage. Mantel und Schal. Melanies Geschenk in die Handtasche. Nein, lieber doch in eine Plastiktüte, ich will das kleine Gewicht in der Hand spüren, es soll nicht einfach zu meinem Geldbeutel und dem Hausschlüssel. Ich will in einer Tüte kramen können, bevor ich ihr das flache Paket gebe, es soll vor Vorfreude knistern.
    Immer noch nicht vier. Die Zeit vergeht verdammt langsam. Ich werde trotzdem hinausgehen, was soll ich denn hier? Bald wird auch meine Mutter heimkommen, sie kauft noch etwas ein, bis zum Abend wird sie jeden Augenblick nutzen und wird kochen, putzen, schmücken, singen, Jubel, Trubel, Heiterkeit – ohne mich. Ich bin dann mal weg, Mama. Weiß sie, dass ich erst später wiederkomme? Ich meine, es ihr gesagt zu haben. Doch, ich glaube schon. Sie wird es schon merken. Oder auch nicht. So oder so wird es sie nicht stören.

    Wohin mit der Tüte? Der Mantelärmel ist zu dick, um den Plastikhenkel darüberzuschieben, nun ja, es würde schon gehen, aber dann ist der Ärmel eine pralle Wurst um mein Handgelenk. Wenn ich stattdessen die Tüte in der Hand trage, ist mir erstens kalt, weil der Wind mit den einzelnen Schneeflocken darin von unten in den Ärmel, in mich, zu blasen scheint, und zweitens komme ich mir albern vor, so mit der Tüte, die beim Gehen unweigerlich anfängt zu schwingen. Wie Rotkäppchen mit dem blöden Korb. Blöde Tüte. Aber sie knistert. Immerhin.
    Ich habe so viel Zeit, dass ich trotz Kälte und Wind zu Fuß gehe, nicht die Straßenbahn in das In-Viertel nehme, sondern mir einbilde, die Stunden ablaufen, weglaufen zu können. Die Straßen sind erstaunlich voll, Menschen, die noch die letzten Geschenke ergattern wollen, Menschen, die auch heute noch arbeiten müssen, Kinder, die spielen sollen vor dem Weihnachtsessen, Teenager, die nicht wissen, wohin an einem Tag wie diesem, man kann die Freunde nicht erreichen, weil sie alle beschäftigt sind, im Familienleben versunken, ausbrechen wäre Verrat an den Eltern und Großeltern und Tanten und Onkeln und der ganzen Versammlung, aber zu Hause in diesem Gefühlssumpf will man auch nicht bleiben. Ein Mann in Anzug und Krawatte zieht einen Tannenbaum auf einem Holzschlitten an den Wohnblöcken vorbei. Die Kufen kratzen auf dem Pflaster, das nicht zugeschneit ist, ein klagendes Geräusch, das dem Mann so peinlich zu sein scheint, dass er noch stärker zieht und der Lärm noch lauter und schier unerträglich wird. Ich halte mir wie andere Passanten die Ohren zu, manche tun es so demonstrativ, dass es fast beleidigend ist. Der Mann im Anzug schwitzt und bekommt glühende Ohren. Ich hoffe, dass er bald ankommt. Ich kann ihn noch lange hören, bis ich um die Ecke
biege, ist das Geräusch noch penetrant und traurig. Dann ist wieder die Tüte lauter, ihr Rascheln gegen die Wolle meines Mantels. Rechts, links, rechts, links, ich gehe zu rhythmisch. Mal einen Schritt auslassen. Mal anders sein. Mal die Eintönigkeit durchbrechen. Rechts, rechts, links, rechts, rechts, links. Immer weiter.
    Der Weg war dann doch recht lang. Ich bin nur noch eine Viertelstunde zu früh, als ich vor der Adresse stehe, die Melanie mir geschickt hat. Glasfront, undurchsichtig, weil der Raum dunkel ist. Die Scheibe spiegelt. Nicht hinschauen. Factory 18. Volljährig. Ich werde nicht nach meinem Ausweis gefragt, weil ich früh genug hier bin. Noch kann sich der Türsteher nicht erlauben, Gäste abzuweisen, noch braucht die Bar junge Mädchen, die sich hinter die Scheiben setzen und zahlende Gäste anziehen. Noch bin ich hübsch genug und nicht zu dick, noch kann ich auf meine Wirkung auf den Türsteher vertrauen. Türsitzer, er hat einen eigenen Stuhl hinter dem schwarzen Vorhang, der ihn von dem Winter draußen trennen soll, aber es nicht tut, er trägt einen aufgeplusterten

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