Europa nach dem Fall
Etikettierungen. War der Kommunismus eine linke Bewegung? In mancher Hinsicht wohl, aber gewiss nicht durchgehend angesichts seiner Propagierung und Rechtfertigung einer gnadenlosen Diktatur und der Herausbildung einer neuen Klasse. War die NSDAP Hitlers eine Partei der extremen Rechten? In einiger Hinsicht garantiert, aber auch nicht durchgehend, weil sie vergangene Traditionen nicht bewahren wollte, sondern auf eine revolutionäre Umgestaltung drängte – durch das Führerprinzip (wobei dem faschistischen Führer eine überragende Bedeutung zukam) und durch ihre Verkündigung einer politischen Religion, die rassistische Grundsätze und die Überlegenheit der arischen Rasse predigte. In unserer Zeit, in der Bewegungen wie der Dschihadismus entstanden sind, werden die alten Etikettierungen völlig bedeutungslos; war Osama bin Laden ein Mann der Linken oder der Rechten? Eine solche Fragestellung erscheint unsinnig.
Um dieses Dilemma zu umgehen, wurden neue Etikettierungen wie »Populismus« erfunden. Doch Populismus konnte gleichzeitig in einigen Punkten links und in anderen wiederum rechts sein, oder er konnte mit Leichtigkeit von einer Seite zur anderen wechseln. Einige interpretierten die einwanderungsfeindliche Bewegung als eine Partei des Protestes oder der Unzufriedenheit; andere sahen sie als eine neue Radikalisierung der Mitte (ähnliche Theorien waren zu jener Zeit hinsichtlich der Nazis aufgestellt worden). Wortführer der Muslime nannten ihre Gegner ziemlich häufig »Rassisten«, wahrscheinlich weil rassistische Übergriffe in zahlreichen europäischen Ländern einen Straftatbestand darstellen. Doch auch diese Bezeichnung ist kaum überzeugend, weil der Islam keine Rasse ist und Muslime etwa aus dem Kosovo, aus Nigeria oder von den Philippinen genetisch nicht viel gemeinsam haben.
Kurzum, die zahlreichen einwandererfeindlichen Kundgebungen ließen sich politisch nicht über einen Kamm scheren. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) startete eine Volksabstimmung gegen die weitere Errichtung von Minaretten auf Moscheen, doch die ansonsten altmodische, konservative und patriotische Partei hat nichts mit dem Neofaschismus gemein. Die ungarische Jobbik betrachtet sich dagegen als Nachfolger der faschistischen Pfeilkreuzler aus den 1930er- und 1940er-Jahren. In Ungarn hat es kaum eine muslimische Einwanderung gegeben, doch der Antisemitismus und der Hass auf die Roma (oder Zigeuner) stehen in der Jobbik-Propaganda ganz weit oben. Allgemein gesagt hat der rechte Populismus in Osteuropa wenig mit solchen Bewegungen in der westlichen Hälfte des Kontinents gemein. In den baltischen Staaten richtet er sich vornehmlich gegen Russland. Die italienische Lega Nord betrachtet Süditalien und Sizilien als fast so fremd wie die Einwanderer aus Nordafrika. Die ursprünglich von Fini geleitete neofaschistische Alleanza Nazionale in Italien hat versucht, sich von ihren politischen Ursprüngen zu distanzieren. Für die Partei der »Wahren Finnen«, die bei den Wahlen 2011 beträchtliche Gewinne erzielte, war die Einwanderung ein viel geringeres Problem als die Beziehungen zur EU.
Die flämische Vlaams Belang, die historisch in der prodeutschen (und sogar nazifreundlichen) Separatistenbewegung der 1930er- und 1940er-Jahre verwurzelt ist, kann keineswegs als neofaschistische Partei betrachtet werden, da sie gegen alle Fremden eingestellt ist, und dazu zählen Wallonen ebenso wie Türken und Marokkaner. Die Neonazis in Deutschland, die nicht besonders in Erscheinung getreten sind, haben sich hauptsächlich mit dem Antisemitismus und dem »Zionismus« beschäftigt. Sie haben die radikalen Muslime als potenzielle Verbündete in ihrem Kampf angesehen und daher Schwierigkeiten gehabt, politisches Kapital aus den vorherrschenden islamfeindlichen Stimmungen zu schlagen. Der französische Front National ist antimuslimisch gewesen, hat aber gelegentlich auch mit Muslimen zusammengearbeitet, da es weltanschauliche Überschneidungen gibt, etwa was die Leugnung des Holocaust betrifft. Es hat eine politische Achse gegeben, der Le Pen, der ehemalige Kopf des Front National, Robert Faurisson, ein Professor für französische Literatur und der führende französische Holocaust-Leugner, und Dieudonné angehörten, ein berühmter, beißend antisemitischer Kabarettist und ein Idol radikaler Muslime. In Russland ist es derzeit schwer, mit bloßem Auge die ideologischen Unterschiede zwischen der Kommunistischen Partei und den Neofaschisten zu
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