Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
für einen bereits servierten Teller auf der Theke der Durchreiche liegen sah und in dem Glauben, er sei dort vergessen worden, es wagte, ihn auf den Dorn zu spießen. Herr Neumann sagte keinen Ton, packte nur das Handgelenk des Hilfskochs und knallte dessen geöffnete Handfläche auf die Platte. Dann griff er nach dem Zettelspießer und stach mit den kräftigen, raschen und treffsicheren Schlägen, mit denen er sonst Schnitzel klopfte, die Metallspitze je einmal in die vier Zwischenräume zwischen den Fingern. »Und beim nächsten Mal drücke ich dir die Finger zusammen«, sagte er.
Seit diesem Tag wurden die erledigten Bestellzettel von niemandem mehr angerührt.
Die Kellner leerten die zurückgebrachten Teller in einen Müll eimer neben der Tür und ordneten sie in ein Gitter für die Tellerwäscher ein. Gerda wusste immer, wer den Teller, den sie gerade spülte, im Saal abgeräumt hatte. Bei den männlichen Kellnern musste man schon froh sein, wenn sie die größeren Reste, Hühner- oder Kotelettknochen etwa, beseitigten, denn oft genug machten sie sich noch nicht einmal diese Mühe. Sie ließen die Teller, die sie in das Gitter stapelten, voller Essensreste, mit der klaren Botschaft, dass ihre Arbeit, das Bedienen der Gäste, etwas Feineres sei. Das Dreckwegräumen sollten andere besorgen. Die Kellnerinnen kippten dagegen die Abfälle in den Mülleimer, strichen sorgfältig mit dem Besteck noch einmal über die Teller, und wenn sie Zeit hatten, gossen sie sogar die Soßenreste weg, sodass das Geschirr, das Gerda von ihnen bekam, sehr leicht zu spülen war. Bei manchen Tellern hätte es fast schon gereicht, einmal mit dem Lappen drüberzuwischen und ihn zurückzustellen. Etwa bei den Tellern, die Nina zurückbrachte, eine vielleicht dreißigjährige Kellnerin aus Egna. Die ersten Male hatte sich Gerda noch bei ihr bedankt, aber Nina hatte sie einen Moment lang angesehen mit ihren dunklen, ein wenig zu nahe beieinanderstehenden Augen, vier fertige Teller für den Speisesaal auf den Unterarmen balancierend, die geschwollenen Füße in orthopädischen Schuhen. »Lass es«, sagte sie nur. Mit anderen Worten: Solche Floskeln kann man sich hier sparen, durch diese Tür hier gehe ich mehr als hundertmal am Tag; wenn ich mich da für jeden fertigen Teller bei den Köchen bedanken müsste, na, dann gute Nacht.
Gerda bedankte sich nicht mehr. Aber Ninas Teller waren und blieben die saubersten.
Um elf Uhr aß das Personal zu Mittag, während die letzten Grundzubereitungen auf dem Herd standen und noch ein wenig Zeit blieb, bis die ersten Gäste eintrafen. Gerda und ihre Kollegen saßen in einem düsteren Raum im Kellergeschoss unter der Küche gleich neben den Speisekammern, die Kellner auf der einen, das Küchenpersonal auf der anderen Seite. Es war Herr Neumann, der für sie kochte. Dass seine Leute ordentlich aßen, war ihm wichtig, und so ließ er sich immer wieder neue Gerichte aus Res ten einfallen. Kalte Bratenstücke verarbeitete er zu Frikadellen mit Soße; aus übrig gebliebenem Kochfleisch, in hauchdünne Scheibchen geschnitten und mit Salzkartoffeln, Zwiebeln und Lorbeer in der Pfanne gewendet, bereitete er köstlich duftende Greastl ; er gab geriebenen Käse und Béchamelsoße über kalt gewordene Maccheroni al ragù und schob das Ganze in den Backofen; Restegemüse und eine Handvoll Schnittlauch ließ er mit Reis in Brühe ziehen und zauberte so ein cremiges Risotto. Aber er selbst setzte sich nicht zum Essen zu ihnen: Ein Chefkoch ließ seine Küche nie allein.
Gerda aß hastig, praktisch im Stehen, drei Bissen auf einmal, und lief dann rasch wieder hinauf. Sie hatte keine Freude am Essen, und das nicht nur, weil einem der Appetit vergehen konnte, wenn man ständig von Nahrungsgerüchen umgeben war. Nein, auch später in Rente, als Kochen nicht mehr ihr Beruf war, aß sie ohne Leidenschaft – diesen Zug übernahm Eva von ihr. Doch es hatte einen anderen Grund, dass Gerda so rasch ihren Teller leerte: Sie wollte die freie Zeit nutzen, um Herrn Neumann bei der Arbeit zuzuschauen.
Dem Küchenchef war aufgefallen, wie aufmerksam die Neue die Zubereitung der Gerichte in allen Phasen verfolgte. Erklären ließ sie sich nie etwas, doch wenn sie mal, was selten vorkam, ein wenig Zeit hatte, stand sie da und beobachtete mit ihren länglichen hellblauen Augen, was an den verschiedenen Arbeits tischen vor sich ging. Bei den Salaten und Vorspeisen, den Sup pen und Nudelgerichten, den süßen Nachspeisen und sogar,
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