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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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viele wussten nicht, wohin sie zurückkehren sollten. Die Nonnen teilten sie für einfache Aufgaben in der Küche, in der Krippe oder beim Putzen ein. Wenn sie Glück hatten, fand man eine bezahlte Akkordarbeit in irgendeinem Handwerksbetrieb im Umkreis für sie: Sticken, Stricken, Nähen und Ähnliches, das machte sie unabhängig, sodass sie sich ein eigenes Zimmer suchen konnten. Doch häufig vergingen Monate, wenn nicht gar Jahre, bis das möglich war. Hatten sie mithilfe der Nonnen tatsächlich eine Stelle gefunden und kehrten in die Welt zurück, blieben sie beim Abschied noch einmal hinter dem Tor stehen und schauten sich halb traurig, halb erleichtert ein letztes Mal um. Aber nur jene jungen Frauen, die ihr Kind bei sich behalten konnten. Die anderen, die allein das Haus verließen und deren Kinder auf der Waisenstation, streng getrennt vom Trakt der Wöchnerinnen, zurückblieben, hatten es eilig wegzukommen. Kaum konnten sie nach der Geburt wieder laufen, durchschritten sie schon das Gittertor. Und sobald die Schwester Pförtnerin es hinter ihnen schloss, drehte sich keine von ihnen noch einmal um.
    In dem Zimmer mit den hohen Bogenfenstern, das Gerda sich mit sieben ledigen Müttern teilte, belegte einige Tage lang eine übergewichtige Frau das Bett neben ihr. Sie wurde Anni genannt und war von undefinierbarem Alter. Nachts schnarchte sie, und tagsüber hielt sie sich den Zeigefinger an den Mundwinkel, selbst wenn sie aß. Wie Gerda erfuhr, war Anni vorher bereits fünfmal hier gewesen. Bei keinem der Kinder, die sie dort zur Welt brachte, wusste sie, wer der Vater war. Manche Nonnen vermuteten sogar, Anni durchschaue gar nicht den Zusammenhang zwischen den Säuglingen, die mit verblüffender Leichtigkeit zwischen ihren enormen Oberschenkeln austraten, und den Dingen, die die Männer, zwischen Bierkästen und Säcken mit Sägespänen in der Abstellkammer unter der Treppe eines Wirtshauses, mit ihrem mächtigen Leib anstellten. Denn jedes Mal betrachtete sie ganz ratlos das mit Blut und Kindspech verschmierte Neugeborene, das sie da hervorgebracht hatte, bevor sie es dann der Hebamme oder einer der Krankenschwestern übergab. Wenn die Hebamme Frauen wie Anni beizustehen hatte, drängten sich ihr gewisse Gedanken zum Thema Abtreibung und Verhütungsmethoden auf, welche die Leitung des Mutter-Kind-Hilfswerks, wären sie ihr zu Ohren gekommen, gewiss dazu veranlasst hätten, ihr den »Stern der Güte« wieder zu entziehen. Deshalb behielt die Hebamme sie lieber für sich.
    Gerda betrachtete Anni, wie sie wohl auch eine nur mit Perlen und Federn bekleidete Eingeborene aus dem Dschungel des Amazonasgebiets beäugt hätte, von der sie aus verlässlicher Quelle wüsste, dass sie eine entfernte Verwandte von ihr sei: bestürzt, ungläubig, misstrauisch, aber auch mit der unbezähmbaren Neugier herauszufinden, ob es nicht doch irgendwelche Ähnlichkeiten gebe. Sie fand aber keine. Es gab nur Trennendes, vor allem die Tatsache, dass Anni ihr Kind zur Adoption freigab. Daran hätte Gerda nicht im Traum gedacht. Anni ließ nicht erkennen, ob es sie traurig machte, ihr Kind wegzugeben. Bei jeder Geburt blieb sie nur kurz da, brachte den Säugling zur Welt, und am Morgen darauf war ihr Bett bereits wieder leer.
    Die Tage im Heim verliefen immer gleich, waren geprägt vom festen Rhythmus des Stillens und Wiegens, von Füttern und Schlafenlegen. Die hohe Mauer, die Gerda bei ihrer Ankunft an ein Gefängnis erinnert hatte, kam ihr zunehmend wie ein Schutz vor; ein Schutz vor der Welt, die sie nicht mit offenen Armen empfangen würde, wenn ihre Zeit bei den Nonnen vorüber wäre.
    Hier drangen die Ereignisse dieser Welt nur wie ein entferntes Echo zu ihr. Nach dem Abendessen saß Gerda mit Eva im Arm im Fernsehzimmer. Die Beine der unbequemen Metallstühle hatten eine Unzahl kleiner Kreise in den grünlichen Linoleumfußboden gestanzt, der das Licht der Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Kommodenfernseher zurückwarf. Jeden Abend verfolgte sie, wenn auch nicht mit besonderem Interesse, die Meldungen der Nachrichtensendung.
    WISSENSCHAFTLER SIND SICH EINIG. ALGEN WERDEN IN ZUKUNFT
DAS HAUPTNAHRUNGSMITTEL DER GESAMTEN MENSCHHEIT SEIN;
SIE SIND NAHRHAFT, UND IHR VORKOMMEN IST UNERSCHÖPFLICH.
    DAS VERSCHWINDEN EINES HAARES DES PROPHETEN MOHAMMED AUS DEM HAZRATBAL-SCHREIN IM INDISCHEN SRINAGAR HAT IM GANZEN LAND ZU UNRUHEN MIT TOTEN UND VERLETZTEN GEFÜHRT.
    DIE UNO DISKUTIERT DEN VORSCHLAG, AUF DER GANZEN WELT DAS JAHR AN EINEM SONNTAG

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