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Evas Auge

Evas Auge

Titel: Evas Auge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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jeden Fall sah er ein kleines Stück Himmel, und darauf kam es an. Das hier starren die Häftlinge an, dachte er, wenn sie in der Zelle sitzen.
    Das hier fehlt ihnen. Die verschiedenen Farbtöne, das wechselnde Licht. Die ewige Wanderung der Wolken. Sejer grunzte, öffnete die Schreibtischschublade und fand eine Tüte Fisherman’s Friend. Das Telefon klingelte, als er gerade mit zwei Fingern in der Tüte herumwühlte. Es war Frau Brenningen von der Rezeption, sie sagte, unten stehe ein kleiner Wicht, der unbedingt mit ihm sprechen wolle.
    »Beeil dich«, sagte sie. »Der muß aufs Klo.«
    »Ein kleiner Wicht?«
    »Ein kleiner dünner. Jan Henry.«
    Sejer fuhr hoch und lief zum Fahrstuhl. Der sank fast lautlos abwärts. Sejer gefiel es nicht, daß es kaum ein Geräusch dabei gab, der Fahrstuhl hätte einen solideren Eindruck gemacht, wenn er lauter gewesen wäre. Nicht, daß er an Fahrstuhlangst litt oder so, es war nur eine Überlegung.
    Jan Henry stand ganz still in der großen Halle und hielt nach Sejer Ausschau. Sejer war gerührt, als er die schmächtige Gestalt sah; hier, im Foyer, sah er besonders verloren aus. Er nahm den Kleinen bei der Hand und ging mit ihm zu den Toiletten. Wartete, bis Jan Henry fertig war. Der sah danach ziemlich erleichtert aus.
    »Mama ist beim Friseur«, erklärte er.
    »Ach? Und sie weiß, daß du hier bist?«
    »Nein, nicht, daß ich hier bin, aber sie hat gesagt, ich darf einen Spaziergang machen. Es dauert lange, sie läßt sich Locken legen.«
    »Dauerwellen? Ja, das ist kein Jux, das dauert an die zwei Stunden«, sagte Sejer fachmännisch. »Komm doch mit in mein Büro, dann siehst du, wo ich arbeite.«
    Er nahm den Jungen an der Hand und ging mit ihm zum Fahrstuhl, und Frau Brenningen bedachte ihn mit einem langen, anerkennenden Blick. Sie war mit den meisten Intrigen und fast der ganzen Macht fertig. Nur die Begierde stand noch aus.
    »Du magst sicher kein Mineralwasser, Jan Henry«, sagte Sejer und hielt Ausschau nach etwas, das er anbieten konnte. Mineralwasser und Fisherman’s Friend waren wohl nichts für einen kleinen Jungen, dessen Geschmacksnerven noch intakt und unverdorben waren.
    »Doch, Mineralwasser, ja. Das habe ich immer von Papa gekriegt«, sagte Jan Henry zufrieden.
    »Da habe ich ja Glück gehabt.«
    Sejer riß einen Plastikbecher aus der Wurst über dem Waschbecken, schenkte ein und stellte den Becher auf den Tisch. Der Junge trank lange und rülpste vorsichtig.
    »Wie geht es dir denn so«, fragte Sejer freundlich und sah, daß Jan Henry neue Sommersprossen bekommen hatte.
    »Nicht schlecht«, murmelte der. Und dann fügte er hinzu, wie als Erklärung für sein Kommen: »Mama hat jetzt einen Freund.«
    »O verdammt«, rutschte es aus Sejer heraus. »Deshalb also die Locken.«
    »Weiß ich nicht. Aber der hat ein Motorrad.«
    »Ach? Ein japanisches?«
    »BMW.«
    »Ach! Und darfst du mal mitfahren?«
    »Nur auf dem Wäscheplatz hin und her.«
    »Das ist doch auch nicht schlecht, und vielleicht macht ihr ja auch noch mal längere Ausflüge. Du trägst dabei doch sicher einen Helm?«
    »Sicher.«
    »Und deine Mama, fährt die mit?«
    »Nein, das will sie nicht. Aber er versucht, sie zu überreden.«
    Sejer trank aus der Flasche und lächelte. »Nett, daß du mal reingeschaut hast, ich kriege hier nicht oft Besuch.«
    »Echt nicht?«
    »Nein, ich meine, nicht solchen Besuch wie deinen. Netten Besuch. Der nichts mit meiner Arbeit zu tun hat, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Ach so. Aber ich wollte eigentlich den Zettel bringen«, sagte Jan Henry schnell. »Sie haben gesagt, ich soll Bescheid sagen, wenn mir was einfällt. Über den Zettel von Papa.«
    Sejer fuhr überrascht zusammen.
    »Den Zettel?« stammelte er.
    »Ich habe ihn in der Garage gefunden. Ich habe tagelang auf dem Tisch gesessen und nachgedacht, wie Sie gesagt haben. Und wenn ich die Augen zumachte, dann konnte ich Papa sehen, an dem Tag – an dem Tag, an dem er nicht mehr zurückgekommen ist. Und er hat den Zettel aus der Tasche gezogen. Und plötzlich fiel mir alles wieder ein, er lag unter dem Auto auf dem Boden und zog den Zettel aus der Tasche. Er hat ihn gelesen, und dann kam er ein Stück unter dem Auto hervorgekrochen, und dann hat er nach hinten gegriffen, so …«
    Er hob einen Arm über den Kopf und schien in der Luft etwas abzulegen.
    »Und dann hat er ihn auf eine kleine Kante unter dem Tisch gelegt, dicht über dem Boden. Ich bin vom Tisch gesprungen und habe gesucht, und dann

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