Evas Auge
hinunter. Larsgård hatte sich wie ein steinalter Mann angehört. Warum stimmten Name und Nummer nicht überein? Darüber zerbrach Sejer sich den Kopf, als er vorbei an Kraftwerk und Campingzentrum in aller Ruhe nach Süden fuhr, im Rückspiegel die Wagen hinter sich betrachtete und ungeduldige Fahrer vorbeiließ, alle, die hinter Sejer kamen, wurden ungeduldig, was ihn aber nicht weiter kratzte. Bei der Knäckebrotfabrik bog er nach links ab, fuhr zwischen Ackern und Wiesen weiter und erreichte schließlich eine Gruppe von vier bis fünf Häusern. Am Rand dieser kleinen Siedlung lag noch ein Bauernhof. Larsgård wohnte in dem gelben Haus, es war ein ziemlich schönes Haus, winzig klein, mit ziegelroten Windbrettern und einem kleinen Seitenschuppen. Sejer hielt an und schlenderte auf die Treppe zu. Aber ehe er sie erreicht hatte, öffnete sich die Tür, und ein magerer, schlaksiger Mann erschien. Er trug eine Strickjacke und karierte Pantoffeln und hielt sich am Türrahmen fest. In der Hand hielt er einen Stock. Sejer suchte in seiner Erinnerung, irgend etwas an dem Alten kam ihm bekannt vor. Ihm fiel nicht ein, was.
»Sie haben nicht zu lange suchen müssen?« fragte der Alte.
»Nein, kein Problem. Das hier ist ja nicht gerade Chicago, und dann gibt es ja noch den Stadtplan.«
Sie gaben sich die Hände. Sejer drückte die magere Hand vorsichtig, vielleicht litt sein Gegenüber ja an Gelenkrheumatismus oder irgendeiner anderen Teufelei, wie sie sich in hohem Alter gern einstellt. Dann folgte er dem anderen ins Haus. Es war unordentlich und gemütlich zugleich, es herrschte ein angenehmes Halbdunkel. Die Luft war frisch, hier lag nicht viel alter Staub in den Ecken.
»Sie wohnen hier also allein?« fragte Sejer und setzte sich in einen alten Sessel, einen aus den fünfziger Jahren, in dem er richtig gut saß.
»Mutterseelenallein.«
Der alte Mann ließ sich mit großer Mühe auf dem Sofa nieder. »Und das ist nicht immer so leicht. Meine Beine verrotten so langsam. Sie füllen sich mit Wasser, können Sie sich etwas Scheußlicheres vorstellen? Und mein Herz sitzt auf der falschen Seite, aber immerhin klopft es noch. Klopf auf Holz«, sagte er plötzlich und machte es dann auch.
»Ach? Ist das möglich? Das Herz auf der falschen Seite zu haben?«
»Aber sicher. Ich sehe, daß Sie mir nicht glauben. Sie machen genau dasselbe Gesicht wie alle, denen ich das erzähle. Aber vor vielen Jahren mußte mir der linke Lungenflügel weggenommen werden. Ich hatte Tuberkulose, war zwei Jahre im Sanatorium. Da hat es mir gut gefallen, das war nicht das Problem, aber als sie diesen Lungenflügel rausgeholt hatten, war so verdammt viel Platz in meiner Brust, und deshalb fing der ganze Dreckskraman, nach rechts hinüber zu wandern. Aber egal, wie gesagt, es klopft noch, ich komme schon zurecht. Einmal in der Woche kommt eine Haushaltshilfe her. Sie putzt das Haus, wäscht ab, wirft Abfälle und die Sachen aus dem Kühlschrank weg, die seit ihrem letzten Besuch Schimmel angesetzt haben, und kümmert sich um die Blumen. Und sie bringt mir jedesmal drei oder vier Flaschen Rotwein mit. Das darf sie offenbar gar nicht. Für mich Rotwein kaufen, meine ich, sie dürfte mich höchstens in den Laden begleiten. Und deshalb sagt sie, ich dürfe das niemandem verraten. Aber Sie tratschen ja wohl nicht, oder?«
»Natürlich nicht.« Sejer lächelte. »Ich trinke abends vor dem Schlafengehen immer einen Whisky, das mache ich schon seit vielen Jahren. Und die Haushaltshilfe, die sich irgendwann weigert, für mich in den Schnapsladen zu gehen, tut mir jetzt schon leid. Ich dachte, dazu wären sie da?« fügte er unschuldig hinzu.
»Einen Whisky?«
»Nur einen. Aber einen ziemlich großzügigen.«
»Ja, genau. Wissen Sie, in ein Glas passen vier normale Schnapsmengen. Das habe ich ausgerechnet. Ballantines?«
»Famous Grouse. Der mit dem Schneehuhn auf dem Etikett.«
»Nie gehört. Aber was kann ich eigentlich für Sie tun? Hatte meine Frau düstere Geheimnisse?«
»Bestimmt nicht, aber ich muß Ihnen etwas zeigen.«
Sejer schob die Hand in die Jackentasche und fischte den Zettel heraus.
»Kennen Sie diese Handschrift?«
Larsgård hielt sich den Zettel dicht vor die Augen, zwischen seinen zitternden Fingern bewegte das Papier sich heftig hin und her.
»Nein«, sagte er unsicher. »Sollte ich das?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Es gibt sehr viel, was ich nicht weiß. Ich ermittle im Mord an einem achtunddreißig Jahre alten Mann,
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