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Evas Auge

Evas Auge

Titel: Evas Auge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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seinen Blick in ihre goldenen Augen. Er kam sich vor wie ein Henker. Aber sie wußte etwas, und das mußte er zu fassen bekommen.
    Sie zermarterte noch einen Moment ihr Gehirn, dann murmelte sie: »Davon habe ich wirklich keine Ahnung.«
    »Lügen«, sagte er langsam, »sind wie Schneebälle, haben Sie sich das schon einmal überlegt? Zuerst sind sie winzigklein, aber früher oder später müssen Sie ein Stück weiterrollen, und dann werden sie immer größer und größer. Und am Ende sind sie so schwer, daß Sie sie nicht mehr tragen können.«
    Sie schwieg. Ihre Augen wurden blank, und sie zwinkerte rasch zweimal. Und dann lächelte er. Sie starrte ihn verwirrt an, wenn er lächelte, sah er ganz anders aus.
    »Werden Sie nie mit Farben malen?«
    »Warum sollte ich?«
    »Weil die Wirklichkeit nicht schwarzweiß ist.«
    »Dann male ich wohl nicht die Wirklichkeit«, sagte sie mürrisch.
    »Aber was dann?«
    »Ach, das weiß ich im Grunde nicht. Gefühle vielleicht.«
    »Sind Gefühle denn nicht wirklich?«
    Keine Antwort. Sie stand in der Tür und sah ihm noch lange hinterher, als er zum Auto ging, als wolle sie ihn mit ihren Blicken festhalten. Und eigentlich hätte er gern kehrtgemacht.
    Danach fuhr er zum Haus seiner Tochter. Dort traf er ein, als Matteus gerade zu Ende gebadet hatte. Naß und warm und mit tausend kleinen funkelnden Tropfen im Wuschelhaar. Der Kleine wurde in einen gelben Schlafanzug gesteckt und sah eigentlich aus wie in Goldpapier eingewickelte Schokolade.
    Er duftete nach Seife und Zahnpasta, und in der Badewanne schwammen noch ein Hai, ein Krokodil, ein Schwertwal und ein Badeschwamm, der aussah wie eine Melone.
    »Das wurde aber auch Zeit«, seine Tochter lächelte und umarmte ihn, leicht verlegen, weil sie sich so selten sahen.
    »Ich habe soviel zu tun. Aber jetzt bin ich ja hier. Mach dir keine große Mühe, ich bin mit einem Butterbrot zufrieden, wenn das geht, Ingrid. Und mit Kaffee. Ist Erik nicht da?«
    »Der ist zum Bridge. Ich habe eine Pizza in der Tiefkühltruhe, und kaltes Bier.«
    »Ich habe das Auto«, er lächelte.
    »Und ich habe die Nummer vom Taxifunk«, parierte sie.
    »Du bist ganz schön wortklauberisch!«
    »Nein«, sie lachte, »klauberisch ist das hier!«

Sie kniff ihn in die Nase.
    Er setzte sich ins Wohnzimmer, nahm Matteus auf den Schoß und schlug ein knallbuntes Bilderbuch voller Dinosaurier und Echsen auf. Der kleine frischgebadete Wicht war so warm auf Sejers Schoß, daß dem der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Er las ein paar Zeilen vor und fuhr mit der Hand durch die kohlschwarzen Haare, immer wieder staunte er darüber, wie lockig sie waren, wie unglaublich winzig jede einzelne Locke war, und wie sie sich anfühlten. Nicht weich und biegsam wie bei norwegischen Kindern, sondern grob, fast wie Stahlwolle.
    »Opa soll hier schlafen«, sagte der Junge hoffnungsvoll.
    »Das mache ich, wenn deine Mama das erlaubt«, versprach Sejer. »Und ich kaufe dir einen Overall, den kannst du anziehen, wenn du an deinem Dreirad herumschraubst.«
    Danach saß er noch eine Weile auf der Bettkante, und seine Tochter konnte sein undeutliches Gemurmel hören, er brummte und dröhnte, es sollte wohl irgendein Kinderlied sein. Mit seiner Musikalität war nicht viel Staat zu machen, aber die Wirkung blieb trotzdem nicht aus. Bald schlief Matteus mit halboffenem Mund, seine Zähnchen leuchteten in seinem Mund wie kreideweiße Perlen. Sejer seufzte, stand auf und setzte sich zu Tisch, zusammen mit seiner Tochter, die nun wirklich erwachsen wurde, und die fast so schön war wie damals ihre Mutter, aber eben nur fast. Er aß langsam, trank Bier und überlegte sich, daß es bei seiner Tochter genauso roch wie bei ihm zu Hause, als Elise noch lebte. Weil sie die gleichen Putzmittel und die gleichen Toilettenartikel benutzte, das hatte er im Badezimmerregal gesehen. Sie würzte das Essen so, wie ihre Mutter das gemacht hatte. Und wenn sie aufstand, um neues Bier zu holen, beobachtete er verstohlen ihre Bewegungen, sah, daß sie den gleichen Gang hatten, die gleichen kleinen Füße und die gleiche Mimik beim Erzählen und Lachen. Als er schon lange im kalten Gästezimmer lag, das eigentlich ein winziges Kinderzimmer war, das sie noch nicht hatten füllen können, dachte er noch immer darüber nach. Fühlte sich wie zu Hause. Als sei die Zeit stehengeblieben. Und wenn er die Augen schloß und die fremden Vorhänge nicht mehr sah, war alles fast wie früher. Und vielleicht würde Elise ihn

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