Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
einjagte. Sie klang so sehr wie meine Mutter während ihrer letzten Tage. Als ich in diesem nasskalten Raum saß, arbeitete ich im Kopf die Liste der Symptome meiner Mutter ab. Arden hatte etwas Gewicht verloren, aber nicht dramatisch. Sie blutete nicht aus der Nase und ihre Beine schwollen nicht an und nässten auch nicht ununterbrochen, bis sich Pfützen zu ihren Füßen bildeten. Trotzdem, die Art, wie Arden hustete, wie Kälteschauer sie überliefen, wie sie die Augen verdrehte, sodass ich nur noch das Weiße sah …
Ich drückte ihre kalte Hand, sie sollte sich aufrichten, wach und lebendiger als je zuvor! Mir erzählen, ich solle mit der Rumhängerei aufhören, und dann alles mit einem Augenverdrehen abtun. Aber nichts. Bloß ein weiteres Zucken mit dem Bein, noch ein Stöhnen. Ich sagte die Worte, die ich meiner Mutter nicht hatte sagen können, die Worte, die mir an jenem Tag im Juli, als die Laster die Barrikade durchbrachen, im Hals stecken geblieben waren und seitdem dort feststeckten, nahe bei meinem Herzen, wo sie sich in etwas Bleibendes verwandelt hatten.
Ich war wieder fünf, leichtfüßig stieg ich die Treppe hinauf. Nachdem meine Mutter gehört hatte, dass die Ärzte nur den Reichen halfen, hatte sie das Warten aufgegeben. Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. Ich ging hinein und wollte sie umarmen, doch sie hatte einen Plastikschutz vor meinen Mund gebunden und mich auf die Straße gezogen und den Fahrern mit ihrer gebrochenen Stimme zugerufen anzuhalten. Als sie zurückrannte und mir aus Angst nicht einmal einen Kuss gab, wollte ich den Briefkasten nicht loslassen. Ich versuchte, mich an dem Holzpfosten festzuhalten, doch man hob mich auf die Ladefläche des Lasters und mein Körper hing willenlos in der Umklammerung einer alten Frau.
»Bitte«, bat ich Arden nun, während ich die Augen schloss und mich zum Klang meiner eigenen Stimme wiegte. Wieder drückte ich ihre Hand und drehte sie um. »Verlass mich nicht. Ich brauche dich.«
Als Arden sich nicht rührte, legte ich meinen Kopf aufs Kopfkissen und begrüßte die Tränen. Vielleicht würde sie nie wieder auf die Beine kommen.
Vielleicht schafften wir es nie zusammen auf die Straße, Richtung Califia.
Stunden später erwachte ich von grellem Licht.
Jemand stand im Türrahmen des Raums und hielt eine Taschenlampe auf mein Gesicht. Die Silhouette bewegte sich und der Strahl richtete sich auf den Boden. Ich rieb mir die Augen und überlegte, wer die kleine Gestalt sein könnte, die vor mir stand; die Person reichte mir maximal bis zur Hüfte. Zottelige Haare fielen ihr auf die Schultern und um die Taille bauschte sich ausladend ein Tutu.
Ich blinzelte in die Dunkelheit, doch die Gestalt verschwand nicht – sie war Wirklichkeit – kein schemenhaftes Überbleibsel aus einem Traum.
»Wie heißt du?«, flüsterte ich dem kleinen Mädchen zu und wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Sie trat einen Schritt zurück. »Komm her zu mir.« Ich hob den Arm, um sie heranzuwinken. Doch bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, rannte sie schon den schwach beleuchteten Gang hinunter.
Ich setzte mich im Bett auf, plötzlich war ich hellwach. Ich hatte keine Ahnung, wie es ein kleines Mädchen in ein Camp geschafft hatte, in dem nur Männer lebten, aber ich wusste, ich musste ihr hinterherlaufen. Ich rannte zur Türschwelle und sah, wie sie – im Licht der Taschenlampenstrahlen nur schemenhaft zu erkennen – den Tunnel hinuntertrottete.
»Warte!«, rief ich ihr hinterher. »Komm zurück!«
Plötzlich verschwand sie hinter einer Biegung.
Ich spähte den dunklen Gang hinunter. Ich folgte der Biegung des Tunnels und versuchte, mich von den dunklen Löchern auf beiden Seiten fernzuhalten, in denen die Jungen schliefen. Das kleine Mädchen war noch immer vor mir, tänzelte durch den Korridor, ihr Tutu wippte bei jedem Schritt auf und ab. Als sich der Tunnel teilte, bog sie ab und rannte einen unbeleuchteten Gang hinunter. Ich folgte ihr mit weit ausholenden Schritten.
»Ich tue dir nichts«, flüsterte ich eindringlich. »Bleib bitte stehen!«
Ich rannte schnell und ohne Anstrengung, meine Schritte waren so leicht wie seit Tagen nicht mehr. Es fühlte sich gut an, auf den Beinen zu sein, sich zu bewegen, mit jedem Meter, den ich rannte, wurde ich innerlich ruhiger und es blieb nur das Geräusch meiner Atemzüge. Nach einer Weile erkannte ich die schemenhafte Gestalt wieder vor mir, sie war nur wenige
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