Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
nach dem Paar um, das ich so oft hatte kommen und gehen sehen, nach dem Mann mit dem braunen Hut. Ich erinnerte mich an den durchdringenden fauligen Geruch und an den Staub, der sich in den Ecken gesammelt hatte. Wir brauchen Hilfe, sagte ich, als ich zögernd ins Wohnzimmer trat. Da sah ich seine sterblichen Überreste auf der Couch. Seine Haut war grau, sein Gesicht durch die Verwesung teilweise eingefallen.
»Du hast uns verlassen«, sagte ich und konnte die Wut in meiner Stimme nicht unterdrücken. »Sie war allein, sie starb allein in diesem Haus und du hättest ihr helfen können. Ich habe darauf gewartet, dass uns jemand rettet.«
Er legte seine Hand auf meine, doch ich zog sie weg. »Das hätte ich getan, Genevieve …«
»So heiße ich nicht«, fuhr ich ihn an. Ich drückte das Foto an die Brust. »Du kannst mich nicht einfach so nennen.«
Er stand auf, ging zum Fenster und drehte mir den Rücken zu. Draußen war das Land jenseits der Mauern schwarz, kilometerweit war kein einziges Licht zu sehen. »Ich habe von deiner Existenz erst erfahren, als ich ihre Briefe las.« Er seufzte. »Wie kannst du deshalb böse auf mich sein? Sie mussten Soldaten vor meiner Tür aufstellen, um tätliche Übergriffe zu verhindern. Ich war eines der wenigen überlebenden Regierungsmitglieder in Sacramento. Die Menschen waren davon überzeugt, dass ich irgendein magisches Heilmittel besaß und dass ich ihre Familien retten könnte. Sobald die Seuche vorbei war, sobald ich über die Mittel verfügte, schickte ich Soldaten. Ich errichtete eine neue provisorische Hauptstadt und versuchte, die Überlebenden zu sammeln. Ich schickte sie zu ihrem Haus, um euch beide zu finden. Du warst bereits weg.«
»War sie noch dort?«, fragte ich, meine Hände lagen gefaltet auf dem Foto. Ich erinnerte mich daran, wie sie in der Tür gestanden und mir einen Luftkuss zugepustet hatte. Sie hatte so zerbrechlich ausgesehen, unter ihrer Haut hatten sich die Knochen abgezeichnet. Es hielt mich trotzdem nicht davon ab, mir auszumalen, dass es vielleicht anders ausgegangen war. Dass sie vielleicht – gegen alle Wahrscheinlichkeit – überlebt haben könnte.
»Sie fanden ihre sterblichen Überreste«, sagte er. Er drehte sich um und kam auf mich zu. »Ab da habe ich angefangen, nach dir zu suchen, zuerst in den Waisenhäusern, und dann, als die Schulen eingerichtet wurden, überprüfte ich deren Listen. Doch auf keiner stand ein Mädchen namens Genevieve – man hatte dich offensichtlich schon zu Eve gemacht. Erst als sie die Abschlussfotos schickten und ich dein Bild sah, wusste ich, dass du am Leben warst. Du siehst ihr so ähnlich.«
»Und das alles soll ich dir aufgrund eines Fotos abnehmen?« Ich hielt es hoch.
»Es gibt Tests«, erwiderte er ruhig.
»Wie soll ich irgendetwas von dem glauben, was du sagst? Meine Freundinnen sind noch immer in diesen Schulen. Und sie sind deinetwegen dort.«
Er ging um den Tisch und atmete tief aus. »Ich erwarte nicht, dass du es jetzt schon verstehst. Wie solltest du auch.«
Ich lachte leise. »Was gibt es da zu verstehen? Es macht nicht den Anschein, als wäre es kompliziert. Sie sind alle gegen ihren Willen und deinetwegen dort. Du bist derjenige, der mit den Arbeitslagern und den Schulen angefangen hat.« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den leichten Linksdrall unserer Nasen zu ignorieren oder dass wir dieselben schweren Lider hatten. Ich hasste sein lichtes Haar, die kaum sichtbare Kerbe in seinem Kinn, die tiefen Falten in seinen Mundwinkeln. Ich konnte nicht fassen, dass ich mit diesem Mann verwandt war – dass wir eine Geschichte oder sogar dasselbe Blut teilten.
Auf seiner Haut glänzte Schweiß. Obwohl er sich die Hand vors Gesicht hielt, beobachtete ich ihn, ich würde nicht wegsehen. Schließlich drehte er sich um und drückte einen Knopf an der Wand. »Beatrice, kommen Sie jetzt bitte«, sagte er mit leiser Stimme. Er wischte einen Fussel von der Vorderseite seines Blazers. »Du hattest einen anstrengenden Tag, um es mal so zu sagen. Du musst müde sein. Deine Zofe wird dich auf dein Zimmer bringen.«
Die Tür ging auf. Eine kleine Frau mittleren Alters kam herein, sie trug einen roten Rock und eine Jacke mit dem Wappen des Neuen Amerika auf dem Revers. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Sie lächelte, als sie mich sah, und machte einen Knicks, ein »Eure Königliche Hoheit« entfuhr ihren Lippen.
Der König legte mir leicht die Hand auf den Arm. »Schlaf dich aus. Wir
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