Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
wanderte über meine Hände, die noch immer in ihren Plastikfesseln steckten. »Eine Gefangene?«, fragte einer der Soldaten. Er hielt die Taschenlampe auf meine Handgelenke. »Habt ihr Papiere für sie?«
»Papiere sind nicht nötig«, antwortete Stark. »Das ist das Mädchen.«
Der Soldat musterte mich mit seinen Knopfaugen und feixte. »In diesem Fall, herzlich willkommen zu Hause.« Er bedeutete den Soldaten zurückzutreten. Die Schranke hob sich. Stark trat das Gaspedal durch und wir rasten in die glitzernde Stadt hinein.
Wir fuhren an Gebäuden vorbei, die von innen beleuchtet waren, leuchtend blau und grün und weiß, genau, wie es mir die Lehrerinnen beschrieben hatten. Ich erinnerte mich daran, wie ich in der Mensa der Schule gesessen und den Ansprachen des Königs über den Wiederaufbau gelauscht hatte. Luxushotels wurden zu Wohnhäusern und Bürogebäuden umgebaut. Das Wasser kam aus einem örtlichen Stausee namens Lake Mead. Die Lichter in den obersten Stockwerken der Hochhäuser leuchteten, die Swimmingpools funkelten in makellosem Kristallblau, den Strom lieferte der große Hoover-Staudamm.
Der Jeep raste durch eine ausgedehnte Baustelle in einem Außenbezirk der Stadt. An manchen Stellen waren die Sandverwehungen über drei Meter hoch. Auf der Mauer patrouillierten Soldaten, ihre Gewehre waren in die Nacht gerichtet. Wir passierten zerfallene Häuser, Schuttberge und ein riesengroßes Gatter mit Nutztieren. Müllgeruch stieg mir in die Nase. Über uns ragten gewaltige Palmen empor, ihre Stämme waren verdorrt und braun.
Als wir uns dem Zentrum der Stadt näherten, wurde alles weitläufiger. Zu unserer Linken erstreckten sich Gärten und rechts war eine Betonfläche. Vor einem baufälligen Gebäude mit dem Schild McCARRAN AIRPORT standen einige verrostete Flugzeuge. Wir rasten an heruntergekommenen Vierteln und alten Autowracks vorbei, bis rings um uns Gebäude aufragten, eines großartiger als das andere. Sie hatten unterschiedliche Farben, elektrisches Licht ließ sie flimmern.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte mich der Soldat mit der Narbe und drehte seine Feldflasche auf.
Ich starrte auf das Bauwerk vor uns: eine riesengroße goldene Pyramide. Rechts davon stand ein grünes Hochhaus, dessen Glasoberfläche den Mond widerspiegelte. Beeindruckend war das falsche Wort. Die glänzenden Gebäude glichen nichts, was ich bislang gesehen hatte. Ich kannte nur die Wildnis – Straßen voller Schlaglöcher, Häuser mit eingestürzten Dächern und den schwarzen Schimmel an den Schulwänden. Menschen spazierten über Brücken aus Metall, die sich über die Straßen spannten. Am Ende der Hauptstraße ragte ein Hochhaus bis zu den Sternen, eine leuchtend rote Nadel gegen den Nachthimmel. Wir haben überlebt, schien die Stadt mit jedem glitzernden Wolkenkratzer, jeder asphaltierten Straße und jedem neu gepflanzten Baum zu sagen. Die Welt dreht sich weiter.
Der Jeep war das einzige Fahrzeug auf der Straße. Er fuhr so schnell, dass ich die Menschen nur verschwommen wahrnahm. Den breiten Schultern und dem kräftigen Körperbau nach zu urteilen, waren die meisten von ihnen Männer. Winzige weiße Hunde streunten auf der Straße umher, sie waren ungefähr ein Drittel so groß wie Heddy. »Was sind das für Hunde?«, fragte ich.
»Rat Terrier«, erklärte der vernarbte Soldat. »Der König ließ sie züchten, um die Nagetierseuche in den Griff zu bekommen.«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, bog der Jeep links ab und fuhr eine lange Straße hinunter, die auf ein großes weißes Gebäude zuführte. Davor reihten sich mehrere Regierungsjeeps. Soldaten standen vor schlanken Bäumen, über ihren Rücken hingen Maschinengewehre. Ich starrte an dem ausladenden weißen Bauwerk hoch. Der Haupteingang war von Skulpturen gesäumt – geflügelte Engel, Pferde, Frauen mit abgeschlagenen Köpfen. Nach der kilometerlangen Fahrt waren wir da. Der Palast.
Oben wartete der König auf mich.
Stark holte mich aus dem Jeep, seine Hand packte resolut meinen Arm. Ich bekam kaum Luft, als wir die runde, von Marmor dominierte Eingangshalle betraten. Das Gesicht des Königs verfolgte mich seit Monaten. Ich dachte an das Foto, mit dem ich in der Schule aufgewachsen war. Das dünne graue Haar fiel ihm in die Stirn. Die Haut der Wangen hing schlaff herunter und seine Knopfaugen beobachteten einen ständig, folgten einem überall hin.
In der Eingangshalle liefen Soldaten herum, einige unterhielten sich, andere spazierten
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