Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
hat vor, am Lehrkrankenhaus Medizin zu studieren. Ihre Mutter versucht allerdings, sie in eine andere Richtung zu lenken.« Er hob die Augenbrauen, als wolle er sagen: in meine Richtung.
»Verstehe.« Ich nickte und dachte an den kalten, berechnenden Blick, den Clara mir bei unserer ersten Begegnung zugeworfen hatte.
Rings um den Brunnenrand versammelten sich Menschen. Ich starrte auf unser Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, zwei Schatten, die sich im Wind kräuselten. Charles wandte den Blick nicht von mir. »Wie finden Sie die Stadt? Sie scheinen sie nicht so zu lieben wie alle anderen.«
Ich dachte daran, wie Calebs Arm letzte Nacht um mich gelegen hatte, wie die Musik und der Zigarettenrauch den Raum erfüllt hatten. Wie unsere Körper sich in der Türöffnung aneinandergepresst hatten. Ich lächelte, meine Wangen begannen zu glühen. »Sie hat ihre Vorzüge.«
Charles kam näher, seine Schulter drückte leicht gegen meine. »Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?« Er musterte mein Gesicht. »Meinem Vater wäre fast jede andere Stadt lieber gewesen. Trotz allem, was er dem König erzählte, war er erst Jahre nach Beginn des Wiederaufbaus überzeugt, dass es mit Las Vegas funktionieren könnte. Es war meine Mutter, die nie angezweifelt hat, dass es der richtige Ort war. Die meisten Hotels standen während der Pest leer. Die Reklamen ließen sich ohne Aufwand von den Gebäuden entfernen. Die Stadt ist so anders als alles andere – ein Zufluchtsort. Das hat sie immer gewusst.«
»Weibliche Intuition?«, fragte ich und dachte an einen Spruch, den ich in der Schule gehört hatte.
»Wahrscheinlich«, sagte er. Er starrte auf den Springbrunnen. Ein kleiner Junge mit karierter Mütze kniete auf dem steinernen Brunnenrand und sah ins Wasser. »Seit seinem Tod durchlebt sie eine harte Zeit. Sie verbringt die meiste Zeit allein. So schlimm es klingt, aber ein Teil von mir wüsste gern, wie es ist, jemanden so sehr zu lieben.«
Ich starrte auf die kleinen Steinchen, die sich auf dem Grund des Springbrunnens häuften. Ich hatte schon früher darüber nachgedacht, es Caleb zu sagen, jene drei besonderen Worte auszusprechen – die Worte, vor denen uns die Lehrerinnen gewarnt hatten. In der Stille von Maeves Haus, in der ruhigen Nacht um mich herum hatte ich beschlossen, dass diese Worte für Caleb bestimmt waren. Nichts anderes arbeitete so hartnäckig, so unermüdlich in mir und beeinflusste jeden Gedanken.
Als ich mich umdrehte, blickte mich Charles noch immer an. »Manchmal macht es mir allerdings auch Angst. Die Vorstellung, jemandem so nahe zu sein.« Er sah mich forschend an. »Wissen Sie, was ich meine? Ergibt es irgendeinen Sinn?«
Die Frage schwebte zwischen uns in der Luft. Ich erinnerte mich an meine ersten Tage in Califia, wie ich die düstere Stadt über die Brücke hinweg betrachtet und mir vorgestellt hatte, was Caleb dort wohl gerade tat, ob er Kontakt zum Pfad aufgenommen hatte. Die Albträume kamen wenig später: Caleb, wie er am Wasser stand, während Blut sein Bein hinunterrann und die ganze Bay widerlich rot färbte. »Ja, ich weiß, was Sie meinen«, sagte ich. »So vieles kann schiefgehen.«
Charles starrte auf das Wasser. »Sehen Sie diese Steine?«, fragte er und deutete auf die Kiesel. »Die Menschen haben diesen Springbrunnen in eine Art Mahnmal verwandelt. Sie kommen mit Steinen hierher und werfen sie in den Brunnen, einen für jeden geliebten Menschen, den sie während der Pest verloren haben.«
Er ging auf die Büsche zu, die den Wintergarten umgaben, und hob mehrere Steinchen vom Boden auf, die Erde rieb er mit den Fingern ab. »Möchten Sie ein paar?«, fragte er und hielt sie mir entgegen.
»Nur einen.« Ich nahm den glatten braunen Stein in die Hand. Er war mandelförmig – eine Seite war ein wenig breiter als die andere. Ich fuhr mit dem Finger darüber und fragte mich, was meine Mutter wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass ich hier stand, in der neuen Hauptstadt, gefangen gehalten von dem Mann, in den sie sich so viele Jahre zuvor verliebt hatte. Ich konnte beinahe ihr Gesicht sehen, den Pfefferminzbalsam riechen, den sie sich immer auf die Lippen getupft und der bei jedem Kuss Fettflecken auf meinen Wangen hinterlassen hatte. Ich ließ den Kiesel durch meine Finger in das Wasser gleiten. Er blieb am Boden liegen und verschwand unter den anderen, auf der Oberfläche hinterließ er ein Kräuseln.
Wir standen eine Minute schweigend da. Um uns blies der Wind und
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