Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
Gefühl, allein zu sein. Der offene Raum war eine Wohltat. Der Holzboden unter meinen Füßen fühlte sich fest an, die Wände hingen voll vertrauter Freunde. Ich ging auf das Gemälde von van Gogh zu, das ich schon so oft in meinen Kunstbänden betrachtet hatte, die blauen Blumen, die sich auf der Leinwand ausbreiteten und der Sonne entgegenwuchsen. IRIS, VINCENT VAN GOGH, stand auf einem Schild daneben, GERETTET AUS DEM GETTY MUSEUM, LOS ANGELES.
In der Reihe hingen noch weitere Gemälde, Manet und Tizian und Cézanne, einer nach dem anderen. Ich ging an ihnen vorüber und dachte daran, wie viel Zeit ich mit dem See vor Augen damit zugebracht hatte, auf dem Schulrasen den Pinsel über die Leinwand zu ziehen, um die spiegelglatte Seeoberfläche nachzubilden. Ich betrachtete gerade einen Renoir, bei dem ein Riss in der Leinwand zusammengeklebt war, da tauchte Clara neben mir auf.
»Ein paar Dinge weiß ich aber«, sagte sie, in ihrer Stimme schwang Wut mit. Es war klar, dass sie diese Rede während der letzten Minuten vorbereitet hatte. Jedes Wort vibrierte genüsslich, als sie es aussprach. »Ich weiß, wie zweifelhaft es für eine Frau ist, die Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein.« Sie starrte auf die beiden Figuren des Gemäldes. Ein Mann half einer Frau eine grasbewachsene Anhöhe hinauf.
»Wovon redest du?«, fragte ich, ich konnte nicht an mich halten.
»Du warst nicht das erste Kind deines Vaters«, sagte sie. »Sondern sein letztes. Vor dir hatte ich drei andere Kusinen und eine Tante, alle sind an der Seuche gestorben.« Sie drehte sich um und funkelte mich böse an. »Ich kann mir nicht vorstellen, welche Art Frau so etwas tut – mit einem verheirateten Mann ins Bett gehen.«
Ich lächelte und versuchte, den Kloß in meinem Hals nicht zu beachten. »Du irrst dich«, brachte ich heraus. Clara zuckte bloß mit den Schultern, bevor sie mich stehen ließ und auf ein Stillleben an der gegenüberliegenden Wand zuging.
Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf den Mann im Bild, den Hut, der einen Schatten auf sein Gesicht warf, die rosa Knolle seiner Nase, die Art, wie seine Augen mit zwei schwarzen Linien angedeutet waren. Plötzlich schien er mich höhnisch anzugrinsen.
Sie war seine Geliebte, dachte ich für mich und sah plötzlich alles durch einen Tränenschleier. Meine Mutter, die mir vorgesungen und mir den Seifenschaum aus den Augen gewischt hatte. Ich war wieder fünf und kniete auf dem Boden. Sie war krank. Ich sah den Lichtschimmer unter der Schlafzimmertür, ihren Schatten, als sie mit den Knöcheln gegen das Holz schlug und ihre Küsse klopfte, weil sie nicht das Risiko eingehen konnte, ihre Lippen auf meine Haut zu drücken. Ich hatte meine Handfläche auf die andere Seite gepresst und sie auch nicht weggenommen, als sie wieder ins Bett gegangen war und ihr Husten durch die nächtliche Stille hallte.
Ich ging auf die Tür zu, weil ich Angst hatte, in Tränen auszubrechen. Ich lief immer weiter, an den Iris und Manets Stierkampf vorbei, das Tier spießte das Pferd mit seinen langen, schrecklichen Hörnern auf.
»Eure Königliche Hoheit?«, hörte ich den Soldaten fragen, seine Schritte hallten hinter mir. »Soll ich Euch jetzt hinaufbegleiten?«
Ich lief vor ihm her, hörte kaum hin, als er Clara hinter mir in Richtung des Aufzugs hinausführte. Ganz gleich, was Clara gesagt hatte, ich wusste, dass es nicht die Schuld meiner Mutter war, es konnte einfach nicht sein; die Frau, die mich so zärtlich geliebt hatte, die meine Zehen eine nach der anderen gedrückt hatte, während sie sie zählte und mir ein albernes Lied vorsang. Die auf meine Suppe gepustet hatte, um sie abzukühlen, bevor ich den ersten Löffel aß. Er war derjenige gewesen, der eine andere Familie gehabt hatte.
Ich stieg in den Aufzug. Clara folgte mir, die Kabine fühlte sich plötzlich kleiner und beengt an, die Luft schal und heiß.
»Ist alles in Ordnung mit Euch, Prinzessin?«, erkundigte sich der Soldat, als er auf den Knopf drückte. Ich presste die Hände aneinander und versuchte, sie ruhig zu halten. Ich konnte nur an den König denken, an diese Geschichte, die er mir erzählt, das Foto, das er in den Händen gehalten hatte. Er hatte nie seine Familie erwähnt. Er hatte sich so lange Zeit gelassen, bis er nach mir suchte, hatte mich in diesem Haus allein gelassen. Ich hatte so viele Tage damit zugebracht, auf ihr ersticktes Husten zu lauschen, und hatte mich zu Tode geängstigt, wenn es zu lange still
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