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Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt

Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt

Titel: Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Carey
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in der Wildnis gesehen hatte.
    »Die Einzigen, die eine Beziehung verstehen können, sind die beiden Menschen, die sie führen«, sagte er irgendwo hinter mir. Seine Schuhe klackten auf dem kaputten Steinboden. »Du weißt nicht, wie es während dieser Zeit zuging.«
    »Ich weiß, dass du gelogen hast«, sagte ich. »Du hast alle belogen.« Ich starrte auf unsere Spiegelbilder auf der Scheibe, auf den leichten Linksdrall unserer Nasen, unsere helle Haut, den Vorhang schwarzer Wimpern über unseren Augen. Wir beide standen dort Seite an Seite und sahen durch uns selbst in den kleinen Käfig.
    »Ich war glücklich, wenn ich mit deiner Mutter zusammen war«, fuhr er fort. Ich war nicht ganz sicher, ob er zu mir sprach oder nicht. Er sah zu dem riesigen Tier auf, seine Stimme klang nicht mehr wütend. »Es ist schwer für mich, mir dieses Foto anzuschauen, zu sehen, wie ich damals war. Ich war glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Sie machte immer den Eindruck, als würde sie auf einer völlig anderen Frequenz schwingen. Sie war fast dreißig, als ich sie kennenlernte. Es war kurz nachdem sie sich eine Auszeit vom Malen genommen hatte.«
    Ich drehte mich zu ihm. »Ich wusste nicht, dass sie Malerin war«, sagte ich. Unser Haus war langsam in meiner Erinnerung verblasst. Ich konnte nur noch Bruchstücke davon vor mir sehen – die alte Standuhr im Flur, die gehämmerten Goldgewichte darin, die die Zeiger bewegten. Die Sterne an meiner Zimmerdecke, die im Dunkeln leuchteten, den Fleck auf unserem Sofa, wo sie Tee verschüttet hatte. Ich konnte mich an keinen einzigen Pinsel erinnern, an keine Leinwände oder Gemälde an den Wänden. »Ich habe in der Schule malen gelernt.«
    »Ich weiß«, sagte er, ohne auszuführen, woher er das wusste. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und er lachte leise. »An meinem vierzigsten Geburtstag war ich bei deiner Mutter. Sie hatte den ganzen Tag geplant. Wir gingen am Strand spazieren und sie hatte diesen kleinen Schokoladenkuchen dabei, den sie für mich gebacken hatte. Sie trug ihn den ganzen Weg, über sechs Kilometer, damit wir ihn oben auf der Klippe essen und übers Meer blicken konnten. Und sie hat mir dieses alberne Lied vorgesungen, dieses –«
    »Heute, heute« , sang ich und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, »ist ein ganz besonderer Tag, heute hat jemand Geburtstag. « Ich nickte mit dem Kopf und erinnerte mich daran, wie meine Mutter meine Hände umfasst hielt, während wir singend durchs Wohnzimmer tanzten und einen Bogen um den Couchtisch und die Sessel machten.
    Ich hätte ihn gern gehasst und versuchte, mich an all die Dinge zu erinnern, die er getan hatte, versuchte, mir Arden und Ruby und Pip im Ziegelgebäude der Schule vorzustellen. Er war der Grund, warum Caleb sich in den Außenbezirken versteckte, warum wir nicht zusammen sein konnten. Doch in diesem Augenblick teilten wir etwas, das wir mit niemandem sonst auf der Welt teilen konnten: meine Mutter. Ihre ganzen Marotten, ihre albernen Lieder, den Duft ihres Haars nach Lavendelshampoo. Er war der einzige Mensch, der sie auch gekannt hatte.
    Wir liefen schweigend den Gang hinunter. Plötzlich drehte er sich um und beugte sich herunter, um mir in die Augen zu sehen. »Ich habe deine Mutter geliebt. Ganz gleich, wie kompliziert unsere Situation war, wie falsch sie erscheinen mag. Ich habe sie geliebt. Und unsere Beziehung hat mir dich geschenkt.« Er schüttelte den Kopf und presste die Finger gegen die Schläfen. »An jenem Morgen, als ich in deine Schule fuhr, war ich aufgeregt. Ich hatte dasselbe Gefühl wie damals, als meine anderen Kinder geboren wurden. Und als wir ankamen und die Schulleiterin uns berichtete, was passiert war, dass du fort warst, befahl ich den Soldaten, unverzüglich nach dir zu suchen. Du kannst denken, was du willst, aber du bist meine Tochter – die einzige Familie, die ich noch habe. Ich konnte die Vorstellung, dass du allein dort draußen in der Wildnis warst, nicht ertragen.«
    Ich sah in sein vor Sorge verzerrtes Gesicht. Er machte einen Schritt auf mich zu und nahm mich in den Arm. Ausnahmsweise wich ich nicht zurück. Es war unvermeidbar, unwiderstehlich, trotz allem, was er getan hatte. Wenn er nachdachte und die Finger dabei ans Kinn legte oder mit geschlossenem Mund lächelte, sah ich jedes Mal mich selbst. Wir hatten die gleiche Art zu streiten, mit kurzen und treffenden Worten, hatten den gleichen hellen Teint, sein Haar war früher genauso dunkelrotbraun gewesen

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