Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
an. »Du willst nicht, dass ich hierherkomme, weil du nicht willst, dass ich – oder sonst irgendjemand – sieht, unter welchen Bedingungen deine ganzen Projekte gebaut werden.«
Er wurde rot, sein Blick verdüsterte sich. Er rieb sich über die Stirn, als versuche er, sich zu beruhigen. »Ich verstehe, dass du wütend bist«, sagte er. »Clara hätte den Mund halten sollen. Es steht ihr nicht zu.«
Er drehte sich um und lief, die Arme vor der Brust verschränkt, quer durch den Raum. »Ich mag dieses Wort nicht – Geliebte. Ich weiß, wie es klingt, aber es war nicht so. Als ich deine Mutter kennenlernte, hatte ich mich schon von meiner Frau getrennt.« Er blieb vor einem Glaskäfig mit dem Schild GRAUE WÖLFE stehen. Zwei große Hunde zerrten an rotem Fleisch. Ein anderer nagte einen durchgebrochenen Knochen ab.
»Also war sie deine Geliebte«, sagte ich, unfähig, meine Stimme zu kontrollieren. »Und du hast mich hierhergeholt, mir erzählt, wie lange du nach mir gesucht hättest, wie zerrüttet dein Leben ohne deine Tochter wäre, und dabei ist dir einfach entfallen, dass du ja schon eine andere Familie hattest?«
Der König räusperte sich. »Es tut mir leid«, sagte er, jedes Wort kam mühevoll, »dass ich dir nicht von meinen anderen Kindern erzählt habe. Aber das ist etwas, worüber ich nicht gern rede. Ich konzentriere mich mehr auf die Zukunft, so wie alle hier in der Stadt. Wir wollen alle nach vorn blicken.«
Die Weichheit seiner Stimme überraschte mich und zog mich aus meinen Gedanken in seine. Wie sie wohl gestorben waren? Ob ihre Nasen geblutet hatten wie die meiner Mutter? Waren sie zusammen gewesen, als Familie? Oder in unterschiedlichen Krankenhäusern? Hatte er sie im Arm gehalten? Trotz der Warnungen, es nicht zu tun? Hatte er ihr Essen zerkleinert und es ihnen auf die trockene Zunge gedrückt?
»Wie hießen sie?«, fragte ich schließlich. Ich musste es wissen, wollte sie mir einfach vorstellen, wenigstens einen Moment. Ich hatte Geschwister – irgendwann einmal, wenn auch jetzt nicht mehr. Der Gedanke erfüllte mich mit einer seltsamen Traurigkeit. »Wie alt waren sie?«
Er drehte sich wieder zu mir. Er hatte ein Taschentuch aus der Hosentasche gezogen und drehte es um die Finger, bis sie rot wurden. »Samantha war die Älteste. Sie war elf, als sie starb. Paul starb als Erster – er war acht. Und dann war da noch Jackson, mein Kleiner.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, dann war es verschwunden. »Er war nicht mal fünf.«
Ich erinnerte mich an den Teller, den ich mir in der Küche zurechtgemacht hatte. Wie ich an ihre Schlafzimmertür gelehnt auf dem Boden gesessen und die letzte dieser matschigen roten Bohnen heruntergeschlungen hatte, beruhigt von ihren Hustenanfällen. Bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog, hatte sie mir gezeigt, wie ich die Dosen öffnen musste, ihre Hand hielt meine, während wir den Metallöffner herunterdrückten. Die Dosen standen in einer Reihe, eine pro Tag. Es waren mehr als zwanzig Dosen gewesen. Öffne nur eine Dose, hatte sie mir eingeschärft, als sie durchs Haus ging und alle Türen abschloss. Nicht mehr als eine pro Tag.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise. Wir standen nebeneinander und in diesem Moment, in der Stille dieses Raums, war er nicht der König. Ich war nicht die Prinzessin, die gegen ihren Willen in die Stadt gebracht worden war. Wir waren zwei Menschen, die vergessen wollten.
Er rieb sich die Stirn. »Ich habe deine Mutter wirklich geliebt. Und ich war entschlossen, mich scheiden zu lassen. Das war immer der Plan gewesen«, sagte er. »Aber es war kompliziert zwischen uns. Wir lebten unterschiedliche Leben, in verschiedenen Städten. Ich wusste nicht mal, dass sie schwanger war. Und später, als die Pest kam, war alles anders. Ich hätte Sacramento nicht verlassen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich konnte ihr nicht helfen. Jeder kämpfte nur ums Überleben.«
»Wusste deine Frau von ihr?«, fragte ich und mir war schon übel, als die Frage aus meinem Mund heraus war. »Hast du es ihr je gesagt oder war meine Mutter ein Geheimnis?«
»Ich wollte mich scheiden lassen«, wiederholte er. »Ich wartete nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.«
Ich drehte mich um und ging an ihm vorbei einen Tunnel hinunter, in den seitlich ein Glaskäfig eingelassen war. Dort, ungefähr zehn Meter entfernt, lag ein Grizzly mit dem Kopf auf einem Plastikfelsen und schien halbtot zu sein. Er sah aus wie der Bär, den ich
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